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Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

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fahrung! Was jener am liebsten will, ist diesem nichts
nütze, was dieser verlangt, ist jenem ein Gift. Bey-
de Naturen dieses seltsamen Zweygespannes fodern laut
ihr Recht, das keine der andern aufopfern will; die
eine zieht dahin, die andere dorthin, und in der unse-
lig seligen Mitte schwebt der Mensch, gerissen nach
zwey Seiten, öfters von dem widerspänstigen Gespann
zerrissen; unvermeidlich, immer die eine begünstigt mit
der andern im tödlichen Kriege. Wann wird dieser
alte Widerspruch aufhören? Wird an jener zweyleibi-
gen Mißgeburt, davon ein Leib dem andern zur Last ist,
der eine im Tode wirklich sterben, oder schleppen wir
den närrischen Doppelmagen mit uns hinüber, und
werden wir jenes vom heiligen Altar unserer besten
Entschlüsse, *) oder am Sarge unserer Liebsten frech
auflachenden, in unsere schönsten Freuden laut hinein-
grinsenden Ungeheuers auch dort nicht los? Wer hat
sich denn den seltsamen Scherz gemacht, mit unserer
armen Natur das Spiel einer Schlafrockspredigt zu
spielen, wo zu der Rede des Predigers der keine Arme
hat, eine andere mit in sein Gewand versteckte Person
die Gebärden macht, traurige, wenn jener fröhliche,
fröhliche, wenn er traurige Worte spricht, unruhige und
eifrige Bewegungen, wenn jener am ruhigsten, ruhige,
wenn er am eifrigsten redet?



5.
*) Mehr oder minder wird Jeder in seinem Leben die Er-
fahrung des Jean Paulschen Feldpredigers Schmelzle
(am Altare,) oder die des Stifters der englischen Me-
thodisten, dessen Lachsucht beym Gottesdienst eine Zeit-
lang ansteckend wurde, an sich selbst gemacht haben.

fahrung! Was jener am liebſten will, iſt dieſem nichts
nuͤtze, was dieſer verlangt, iſt jenem ein Gift. Bey-
de Naturen dieſes ſeltſamen Zweygeſpannes fodern laut
ihr Recht, das keine der andern aufopfern will; die
eine zieht dahin, die andere dorthin, und in der unſe-
lig ſeligen Mitte ſchwebt der Menſch, geriſſen nach
zwey Seiten, oͤfters von dem widerſpaͤnſtigen Geſpann
zerriſſen; unvermeidlich, immer die eine beguͤnſtigt mit
der andern im toͤdlichen Kriege. Wann wird dieſer
alte Widerſpruch aufhoͤren? Wird an jener zweyleibi-
gen Mißgeburt, davon ein Leib dem andern zur Laſt iſt,
der eine im Tode wirklich ſterben, oder ſchleppen wir
den naͤrriſchen Doppelmagen mit uns hinuͤber, und
werden wir jenes vom heiligen Altar unſerer beſten
Entſchluͤſſe, *) oder am Sarge unſerer Liebſten frech
auflachenden, in unſere ſchoͤnſten Freuden laut hinein-
grinſenden Ungeheuers auch dort nicht los? Wer hat
ſich denn den ſeltſamen Scherz gemacht, mit unſerer
armen Natur das Spiel einer Schlafrockspredigt zu
ſpielen, wo zu der Rede des Predigers der keine Arme
hat, eine andere mit in ſein Gewand verſteckte Perſon
die Gebaͤrden macht, traurige, wenn jener froͤhliche,
froͤhliche, wenn er traurige Worte ſpricht, unruhige und
eifrige Bewegungen, wenn jener am ruhigſten, ruhige,
wenn er am eifrigſten redet?



5.
*) Mehr oder minder wird Jeder in ſeinem Leben die Er-
fahrung des Jean Paulſchen Feldpredigers Schmelzle
(am Altare,) oder die des Stifters der engliſchen Me-
thodiſten, deſſen Lachſucht beym Gottesdienſt eine Zeit-
lang anſteckend wurde, an ſich ſelbſt gemacht haben.
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[70/0080] fahrung! Was jener am liebſten will, iſt dieſem nichts nuͤtze, was dieſer verlangt, iſt jenem ein Gift. Bey- de Naturen dieſes ſeltſamen Zweygeſpannes fodern laut ihr Recht, das keine der andern aufopfern will; die eine zieht dahin, die andere dorthin, und in der unſe- lig ſeligen Mitte ſchwebt der Menſch, geriſſen nach zwey Seiten, oͤfters von dem widerſpaͤnſtigen Geſpann zerriſſen; unvermeidlich, immer die eine beguͤnſtigt mit der andern im toͤdlichen Kriege. Wann wird dieſer alte Widerſpruch aufhoͤren? Wird an jener zweyleibi- gen Mißgeburt, davon ein Leib dem andern zur Laſt iſt, der eine im Tode wirklich ſterben, oder ſchleppen wir den naͤrriſchen Doppelmagen mit uns hinuͤber, und werden wir jenes vom heiligen Altar unſerer beſten Entſchluͤſſe, *) oder am Sarge unſerer Liebſten frech auflachenden, in unſere ſchoͤnſten Freuden laut hinein- grinſenden Ungeheuers auch dort nicht los? Wer hat ſich denn den ſeltſamen Scherz gemacht, mit unſerer armen Natur das Spiel einer Schlafrockspredigt zu ſpielen, wo zu der Rede des Predigers der keine Arme hat, eine andere mit in ſein Gewand verſteckte Perſon die Gebaͤrden macht, traurige, wenn jener froͤhliche, froͤhliche, wenn er traurige Worte ſpricht, unruhige und eifrige Bewegungen, wenn jener am ruhigſten, ruhige, wenn er am eifrigſten redet? 5. *) Mehr oder minder wird Jeder in ſeinem Leben die Er- fahrung des Jean Paulſchen Feldpredigers Schmelzle (am Altare,) oder die des Stifters der engliſchen Me- thodiſten, deſſen Lachſucht beym Gottesdienſt eine Zeit- lang anſteckend wurde, an ſich ſelbſt gemacht haben.

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/80>, abgerufen am 24.11.2024.