Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 18). 2. Bd. Stuttgart, 1899.Ihre Gedanken, die sich sorgenmüde von der traurigen Gegenwart, der drohenden Zukunft abkehrten, irrten in die Vergangenheit zurück, aber sie fanden keinen sonnigen, heiteren Punkt, an dem sie sich hätten festnisten mögen. Überall schaurige Rätsel, drückendes Dunkel, unheilbares Leid. Alles, was mit Gina zusammenhing, war traurig gewesen vom ersten Augenblick an, und selbst vor ihrer Geburt. Und doch liebte die ältere Schwester Gina. Sie hatte während ihres ganzen Lebens nichts andres zu lieben gehabt als Gina. Ganz undeutlich, dämmerig schimmerte es in ihrer Seele auf, daß es einmal anders gewesen war, eine kurze Zeit hindurch, während ihrer ersten Kindheit. Sie erinnerte sich, wie sie an der Hand einer stillen, freundlichen Frau durch einen sonnenbeschienenen, blühenden Garten gewandelt war, in dem Vögel sangen. Aber das war so lange her, und es lag so vieles dazwischen, daß ihr diese Erinnerung vorkam wie ein schöner, unwahrscheinlicher Traum. Das erste, woran sie sich ganz deutlich entsinnen konnte, war ein Tag, an dem man alle Fenster des römischen Palastes, in dem sie damals gewohnt, dunkel gemacht hatte, und besonders die Fenster des Gemachs, in dem ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen, ein Kruzifix in der Hand. Nicht nur, daß die Fenster verdunkelt worden waren, die ganzen Wände hatte Ihre Gedanken, die sich sorgenmüde von der traurigen Gegenwart, der drohenden Zukunft abkehrten, irrten in die Vergangenheit zurück, aber sie fanden keinen sonnigen, heiteren Punkt, an dem sie sich hätten festnisten mögen. Überall schaurige Rätsel, drückendes Dunkel, unheilbares Leid. Alles, was mit Gina zusammenhing, war traurig gewesen vom ersten Augenblick an, und selbst vor ihrer Geburt. Und doch liebte die ältere Schwester Gina. Sie hatte während ihres ganzen Lebens nichts andres zu lieben gehabt als Gina. Ganz undeutlich, dämmerig schimmerte es in ihrer Seele auf, daß es einmal anders gewesen war, eine kurze Zeit hindurch, während ihrer ersten Kindheit. Sie erinnerte sich, wie sie an der Hand einer stillen, freundlichen Frau durch einen sonnenbeschienenen, blühenden Garten gewandelt war, in dem Vögel sangen. Aber das war so lange her, und es lag so vieles dazwischen, daß ihr diese Erinnerung vorkam wie ein schöner, unwahrscheinlicher Traum. Das erste, woran sie sich ganz deutlich entsinnen konnte, war ein Tag, an dem man alle Fenster des römischen Palastes, in dem sie damals gewohnt, dunkel gemacht hatte, und besonders die Fenster des Gemachs, in dem ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen, ein Kruzifix in der Hand. Nicht nur, daß die Fenster verdunkelt worden waren, die ganzen Wände hatte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0028" n="28"/> <p>Ihre Gedanken, die sich sorgenmüde von der traurigen Gegenwart, der drohenden Zukunft abkehrten, irrten in die Vergangenheit zurück, aber sie fanden keinen sonnigen, heiteren Punkt, an dem sie sich hätten festnisten mögen. Überall schaurige Rätsel, drückendes Dunkel, unheilbares Leid.</p> <p>Alles, was mit Gina zusammenhing, war traurig gewesen vom ersten Augenblick an, und selbst vor ihrer Geburt. Und doch liebte die ältere Schwester Gina. Sie hatte während ihres ganzen Lebens nichts andres zu lieben gehabt als Gina.</p> <p>Ganz undeutlich, dämmerig schimmerte es in ihrer Seele auf, daß es einmal anders gewesen war, eine kurze Zeit hindurch, während ihrer ersten Kindheit. Sie erinnerte sich, wie sie an der Hand einer stillen, freundlichen Frau durch einen sonnenbeschienenen, blühenden Garten gewandelt war, in dem Vögel sangen. Aber das war so lange her, und es lag so vieles dazwischen, daß ihr diese Erinnerung vorkam wie ein schöner, unwahrscheinlicher Traum.</p> <p>Das erste, woran sie sich ganz deutlich entsinnen konnte, war ein Tag, an dem man alle Fenster des römischen Palastes, in dem sie damals gewohnt, dunkel gemacht hatte, und besonders die Fenster des Gemachs, in dem ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen, ein Kruzifix in der Hand. Nicht nur, daß die Fenster verdunkelt worden waren, die ganzen Wände hatte </p> </div> </body> </text> </TEI> [28/0028]
Ihre Gedanken, die sich sorgenmüde von der traurigen Gegenwart, der drohenden Zukunft abkehrten, irrten in die Vergangenheit zurück, aber sie fanden keinen sonnigen, heiteren Punkt, an dem sie sich hätten festnisten mögen. Überall schaurige Rätsel, drückendes Dunkel, unheilbares Leid.
Alles, was mit Gina zusammenhing, war traurig gewesen vom ersten Augenblick an, und selbst vor ihrer Geburt. Und doch liebte die ältere Schwester Gina. Sie hatte während ihres ganzen Lebens nichts andres zu lieben gehabt als Gina.
Ganz undeutlich, dämmerig schimmerte es in ihrer Seele auf, daß es einmal anders gewesen war, eine kurze Zeit hindurch, während ihrer ersten Kindheit. Sie erinnerte sich, wie sie an der Hand einer stillen, freundlichen Frau durch einen sonnenbeschienenen, blühenden Garten gewandelt war, in dem Vögel sangen. Aber das war so lange her, und es lag so vieles dazwischen, daß ihr diese Erinnerung vorkam wie ein schöner, unwahrscheinlicher Traum.
Das erste, woran sie sich ganz deutlich entsinnen konnte, war ein Tag, an dem man alle Fenster des römischen Palastes, in dem sie damals gewohnt, dunkel gemacht hatte, und besonders die Fenster des Gemachs, in dem ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen, ein Kruzifix in der Hand. Nicht nur, daß die Fenster verdunkelt worden waren, die ganzen Wände hatte
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-10-29T10:30:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-10-29T10:30:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |