Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 18). 2. Bd. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Da kam eine Nacht, in der die Flut fast bis an den Fuß des alten Kastells stieg, das in seinen Grundfesten erzitterte, und das Meer schrie wie ein Ungeheuer, das seine Beute fordert. Und den nächsten Tag wandelte die Marchesa durch die Gänge mit offenem Haar und mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen, immerfort eine eigentümliche, unheimliche Melodie vor sich hin summend, dieselbe, die Gina jetzt manchmal sang.

Tage vergingen, Wochen, Monate. Die englische Erzieherin war davongelaufen, der Marchese in Trübsinn verfallen. Über dem ganzen Schloß schwebte eine dumpfe Aufregung, als poche ein wühlendes Fieber in den alten Steinwänden. Es war ein ewiges Zittern und Schaudern. Die kleine Emma fürchtete sich, und wenn sie ihre alte Wärterin, die ehemals ihre Kinderfrau gewesen war, fragte, was der böse, unklare Lärm bedeute, so antwortete die Wärterin jedesmal, es sei der Wind.

Manches Mal mischte sich in das Zittern und Schaudern ein wildes Toben und Schreien, - da erklärte die Wärterin, das seien die Raubvögel, die draußen krächzten. Aber Emma wußte, daß es nicht die Vögel waren, und daß der Lärm nicht von draußen kam.

Die Stiefmutter sah sie fast nicht mehr. Sie galt für unwohl und hielt sich meist auf ihrem Zimmer.

Da kam eine Nacht, in der die Flut fast bis an den Fuß des alten Kastells stieg, das in seinen Grundfesten erzitterte, und das Meer schrie wie ein Ungeheuer, das seine Beute fordert. Und den nächsten Tag wandelte die Marchesa durch die Gänge mit offenem Haar und mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen, immerfort eine eigentümliche, unheimliche Melodie vor sich hin summend, dieselbe, die Gina jetzt manchmal sang.

Tage vergingen, Wochen, Monate. Die englische Erzieherin war davongelaufen, der Marchese in Trübsinn verfallen. Über dem ganzen Schloß schwebte eine dumpfe Aufregung, als poche ein wühlendes Fieber in den alten Steinwänden. Es war ein ewiges Zittern und Schaudern. Die kleine Emma fürchtete sich, und wenn sie ihre alte Wärterin, die ehemals ihre Kinderfrau gewesen war, fragte, was der böse, unklare Lärm bedeute, so antwortete die Wärterin jedesmal, es sei der Wind.

Manches Mal mischte sich in das Zittern und Schaudern ein wildes Toben und Schreien, – da erklärte die Wärterin, das seien die Raubvögel, die draußen krächzten. Aber Emma wußte, daß es nicht die Vögel waren, und daß der Lärm nicht von draußen kam.

Die Stiefmutter sah sie fast nicht mehr. Sie galt für unwohl und hielt sich meist auf ihrem Zimmer.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0031" n="31"/>
        <p>Da kam eine Nacht, in der die Flut fast bis an den Fuß des alten Kastells stieg, das in seinen Grundfesten erzitterte, und das Meer schrie wie ein Ungeheuer, das seine Beute fordert. Und den nächsten Tag wandelte die Marchesa durch die Gänge mit offenem Haar und mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen, immerfort eine eigentümliche, unheimliche Melodie vor sich hin summend, dieselbe, die Gina jetzt manchmal sang.</p>
        <p>Tage vergingen, Wochen, Monate. Die englische Erzieherin war davongelaufen, der Marchese in Trübsinn verfallen. Über dem ganzen Schloß schwebte eine dumpfe Aufregung, als poche ein wühlendes Fieber in den alten Steinwänden. Es war ein ewiges Zittern und Schaudern. Die kleine Emma fürchtete sich, und wenn sie ihre alte Wärterin, die ehemals ihre Kinderfrau gewesen war, fragte, was der böse, unklare Lärm bedeute, so antwortete die Wärterin jedesmal, es sei der Wind.</p>
        <p>Manches Mal mischte sich in das Zittern und Schaudern ein wildes Toben und Schreien, &#x2013; da erklärte die Wärterin, das seien die Raubvögel, die draußen krächzten. Aber Emma wußte, daß es nicht die Vögel waren, und daß der Lärm nicht von draußen kam.</p>
        <p>Die Stiefmutter sah sie fast nicht mehr. Sie galt für unwohl und hielt sich meist auf ihrem Zimmer.
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0031] Da kam eine Nacht, in der die Flut fast bis an den Fuß des alten Kastells stieg, das in seinen Grundfesten erzitterte, und das Meer schrie wie ein Ungeheuer, das seine Beute fordert. Und den nächsten Tag wandelte die Marchesa durch die Gänge mit offenem Haar und mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen, immerfort eine eigentümliche, unheimliche Melodie vor sich hin summend, dieselbe, die Gina jetzt manchmal sang. Tage vergingen, Wochen, Monate. Die englische Erzieherin war davongelaufen, der Marchese in Trübsinn verfallen. Über dem ganzen Schloß schwebte eine dumpfe Aufregung, als poche ein wühlendes Fieber in den alten Steinwänden. Es war ein ewiges Zittern und Schaudern. Die kleine Emma fürchtete sich, und wenn sie ihre alte Wärterin, die ehemals ihre Kinderfrau gewesen war, fragte, was der böse, unklare Lärm bedeute, so antwortete die Wärterin jedesmal, es sei der Wind. Manches Mal mischte sich in das Zittern und Schaudern ein wildes Toben und Schreien, – da erklärte die Wärterin, das seien die Raubvögel, die draußen krächzten. Aber Emma wußte, daß es nicht die Vögel waren, und daß der Lärm nicht von draußen kam. Die Stiefmutter sah sie fast nicht mehr. Sie galt für unwohl und hielt sich meist auf ihrem Zimmer.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-29T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-29T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Geviertstriche „—“ werden als normale Gedankenstriche „–“ wiedergegeben.
  • Die Majuskelschreibweise Ae, Oe, Ue wird als Ä, Ö, Ü wiedergegeben.
  • Worttrennungen am Zeilenende werden ignoriert. Das Wort wird noch auf der gleichen Seite vervollständigt.
  • Die Transkription folgt im Übrigen dem Original.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899/31
Zitationshilfe: Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 18). 2. Bd. Stuttgart, 1899, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber02_1899/31>, abgerufen am 23.11.2024.