Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.pfel zu Wipfel, die großen Daturaglocken und Purpurkelche läuteten, die Vögel stießen laute Schreie aus, das Licht ward strahlender und glühender -- eine helle Gestalt schritt den Abhang eines Berges hinunter und bog die Zweige der Gebüsche vor sich auseinander und kam immer näher -- ein "stummer Waldgänger" -- wie Bertram am Abende gesagt. Er kam auf das Forsthaus zugeschritten, er nahm bekannte Züge an -- es waren die Züge Philibert's, dann verwischten sie sich wieder -- es war ein fremdes und dann wieder wie bekanntes Wesen, das herrschte in diesen Regionen und dem die zauberhafte Schöpfung wie einem König huldigte. Als Leonore am andern Tage erwachte und in die morgensonnenhelle Waldlandschaft vor ihrem Fenster blickte, über der die Erinnerung ihrer Traumgesichte schwebte, fühlte sie sich um einen tiefen und unauslöschlichen Eindruck reicher. Sie fühlte aus der Natur ein Etwas sie anwehen, welches sie früher nie empfunden. Eine Sehnsucht stieg in ihr empor nach einer innern Harmonie mit dem stillen, ruhedurchtränkten Leben und Weben der Natur. Sie hätte die nächste schöne Waldblume um ihre träumerische Bewußtlosigkeit beneiden mögen. Sie fühlte, es lag in dieser Natur eine Poesie, welche durch keine zerstörte Illusionen vernichtet werden könne. Ihre Poesie war bisher nur die der Geschichte gewesen, die Poesie des Glanzes und der Macht, welche so oft nur die Poesie des Theaters ist, und welche Leonoren in unvorsichtiger Schwärmerei an den pfel zu Wipfel, die großen Daturaglocken und Purpurkelche läuteten, die Vögel stießen laute Schreie aus, das Licht ward strahlender und glühender — eine helle Gestalt schritt den Abhang eines Berges hinunter und bog die Zweige der Gebüsche vor sich auseinander und kam immer näher — ein „stummer Waldgänger“ — wie Bertram am Abende gesagt. Er kam auf das Forsthaus zugeschritten, er nahm bekannte Züge an — es waren die Züge Philibert's, dann verwischten sie sich wieder — es war ein fremdes und dann wieder wie bekanntes Wesen, das herrschte in diesen Regionen und dem die zauberhafte Schöpfung wie einem König huldigte. Als Leonore am andern Tage erwachte und in die morgensonnenhelle Waldlandschaft vor ihrem Fenster blickte, über der die Erinnerung ihrer Traumgesichte schwebte, fühlte sie sich um einen tiefen und unauslöschlichen Eindruck reicher. Sie fühlte aus der Natur ein Etwas sie anwehen, welches sie früher nie empfunden. Eine Sehnsucht stieg in ihr empor nach einer innern Harmonie mit dem stillen, ruhedurchtränkten Leben und Weben der Natur. Sie hätte die nächste schöne Waldblume um ihre träumerische Bewußtlosigkeit beneiden mögen. Sie fühlte, es lag in dieser Natur eine Poesie, welche durch keine zerstörte Illusionen vernichtet werden könne. Ihre Poesie war bisher nur die der Geschichte gewesen, die Poesie des Glanzes und der Macht, welche so oft nur die Poesie des Theaters ist, und welche Leonoren in unvorsichtiger Schwärmerei an den <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="9"> <p><pb facs="#f0117"/> pfel zu Wipfel, die großen Daturaglocken und Purpurkelche läuteten, die Vögel stießen laute Schreie aus, das Licht ward strahlender und glühender — eine helle Gestalt schritt den Abhang eines Berges hinunter und bog die Zweige der Gebüsche vor sich auseinander und kam immer näher — ein „stummer Waldgänger“ — wie Bertram am Abende gesagt. Er kam auf das Forsthaus zugeschritten, er nahm bekannte Züge an — es waren die Züge Philibert's, dann verwischten sie sich wieder — es war ein fremdes und dann wieder wie bekanntes Wesen, das herrschte in diesen Regionen und dem die zauberhafte Schöpfung wie einem König huldigte.</p><lb/> <p>Als Leonore am andern Tage erwachte und in die morgensonnenhelle Waldlandschaft vor ihrem Fenster blickte, über der die Erinnerung ihrer Traumgesichte schwebte, fühlte sie sich um einen tiefen und unauslöschlichen Eindruck reicher. Sie fühlte aus der Natur ein Etwas sie anwehen, welches sie früher nie empfunden. Eine Sehnsucht stieg in ihr empor nach einer innern Harmonie mit dem stillen, ruhedurchtränkten Leben und Weben der Natur. Sie hätte die nächste schöne Waldblume um ihre träumerische Bewußtlosigkeit beneiden mögen. Sie fühlte, es lag in dieser Natur eine Poesie, welche durch keine zerstörte Illusionen vernichtet werden könne. Ihre Poesie war bisher nur die der Geschichte gewesen, die Poesie des Glanzes und der Macht, welche so oft nur die Poesie des Theaters ist, und welche Leonoren in unvorsichtiger Schwärmerei an den<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0117]
pfel zu Wipfel, die großen Daturaglocken und Purpurkelche läuteten, die Vögel stießen laute Schreie aus, das Licht ward strahlender und glühender — eine helle Gestalt schritt den Abhang eines Berges hinunter und bog die Zweige der Gebüsche vor sich auseinander und kam immer näher — ein „stummer Waldgänger“ — wie Bertram am Abende gesagt. Er kam auf das Forsthaus zugeschritten, er nahm bekannte Züge an — es waren die Züge Philibert's, dann verwischten sie sich wieder — es war ein fremdes und dann wieder wie bekanntes Wesen, das herrschte in diesen Regionen und dem die zauberhafte Schöpfung wie einem König huldigte.
Als Leonore am andern Tage erwachte und in die morgensonnenhelle Waldlandschaft vor ihrem Fenster blickte, über der die Erinnerung ihrer Traumgesichte schwebte, fühlte sie sich um einen tiefen und unauslöschlichen Eindruck reicher. Sie fühlte aus der Natur ein Etwas sie anwehen, welches sie früher nie empfunden. Eine Sehnsucht stieg in ihr empor nach einer innern Harmonie mit dem stillen, ruhedurchtränkten Leben und Weben der Natur. Sie hätte die nächste schöne Waldblume um ihre träumerische Bewußtlosigkeit beneiden mögen. Sie fühlte, es lag in dieser Natur eine Poesie, welche durch keine zerstörte Illusionen vernichtet werden könne. Ihre Poesie war bisher nur die der Geschichte gewesen, die Poesie des Glanzes und der Macht, welche so oft nur die Poesie des Theaters ist, und welche Leonoren in unvorsichtiger Schwärmerei an den
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