Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.den Verboten des Alten, je wieder in seinen Gesichtskreis zu kommen. Der junge Mann flüchtete sich mit der Last seines Herzens und seinem Ingrimm zu seiner Schwester. Leonore suchte ihn zu beruhigen, aber sie gewahrte bald, daß ihre sanften Worte keine Macht hatten über den Sturm, der in ihm tobte. Sie empfand dies tief. Ihr Vater hatte sich nie um sie und die Gefühle ihres Herzens gekümmert; sein Anblick schüchterte sie ein; er war ihr fremd, als ob eine Welt zwischen ihr und ihm liege; so hatte sie alle Empfindungen ihrer liebebedürftigen und in der Einsamkeit nach und nach zur Schwärmerei aufgeblühten jungen Seele dem Bruder zugewendet. Sie liebte nur ihn, sie kannte nur ihn, -- er war ihr Stolz, ihre Zuversicht, die Hoffnung ihrer Zukunft, der Mittelpunkt ihrer Träumereien. Desto tiefer schmerzte es sie, daß sie jetzt so ganz ohne Einfluß auf ihn sei, daß ihre schmeichelnden, flehenden, beschwörenden Worte nicht vermochten, seine Gedanken von einem düstern und verzweifelten Plane abzulenken, den er in sich herumwälzte. Schweig, Leonore, ich bitte dich, sagte er, barsch und heftig im Zimmer auf- und abstürmend, während Leonore sich blaß und verweint in eine Fensterecke drückte: ich bitte dich, schweig und mache mich nicht noch toller. Daß ich etwas thun muß, siehst du ja -- und was sollte ich Besseres, Entscheidenderes thun? Ich will ein großes, ein unerhörtes Opfer bringen, den Verboten des Alten, je wieder in seinen Gesichtskreis zu kommen. Der junge Mann flüchtete sich mit der Last seines Herzens und seinem Ingrimm zu seiner Schwester. Leonore suchte ihn zu beruhigen, aber sie gewahrte bald, daß ihre sanften Worte keine Macht hatten über den Sturm, der in ihm tobte. Sie empfand dies tief. Ihr Vater hatte sich nie um sie und die Gefühle ihres Herzens gekümmert; sein Anblick schüchterte sie ein; er war ihr fremd, als ob eine Welt zwischen ihr und ihm liege; so hatte sie alle Empfindungen ihrer liebebedürftigen und in der Einsamkeit nach und nach zur Schwärmerei aufgeblühten jungen Seele dem Bruder zugewendet. Sie liebte nur ihn, sie kannte nur ihn, — er war ihr Stolz, ihre Zuversicht, die Hoffnung ihrer Zukunft, der Mittelpunkt ihrer Träumereien. Desto tiefer schmerzte es sie, daß sie jetzt so ganz ohne Einfluß auf ihn sei, daß ihre schmeichelnden, flehenden, beschwörenden Worte nicht vermochten, seine Gedanken von einem düstern und verzweifelten Plane abzulenken, den er in sich herumwälzte. Schweig, Leonore, ich bitte dich, sagte er, barsch und heftig im Zimmer auf- und abstürmend, während Leonore sich blaß und verweint in eine Fensterecke drückte: ich bitte dich, schweig und mache mich nicht noch toller. Daß ich etwas thun muß, siehst du ja — und was sollte ich Besseres, Entscheidenderes thun? Ich will ein großes, ein unerhörtes Opfer bringen, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0028"/> den Verboten des Alten, je wieder in seinen Gesichtskreis zu kommen.</p><lb/> <p>Der junge Mann flüchtete sich mit der Last seines Herzens und seinem Ingrimm zu seiner Schwester. Leonore suchte ihn zu beruhigen, aber sie gewahrte bald, daß ihre sanften Worte keine Macht hatten über den Sturm, der in ihm tobte. Sie empfand dies tief. Ihr Vater hatte sich nie um sie und die Gefühle ihres Herzens gekümmert; sein Anblick schüchterte sie ein; er war ihr fremd, als ob eine Welt zwischen ihr und ihm liege; so hatte sie alle Empfindungen ihrer liebebedürftigen und in der Einsamkeit nach und nach zur Schwärmerei aufgeblühten jungen Seele dem Bruder zugewendet. Sie liebte nur ihn, sie kannte nur ihn, — er war ihr Stolz, ihre Zuversicht, die Hoffnung ihrer Zukunft, der Mittelpunkt ihrer Träumereien. Desto tiefer schmerzte es sie, daß sie jetzt so ganz ohne Einfluß auf ihn sei, daß ihre schmeichelnden, flehenden, beschwörenden Worte nicht vermochten, seine Gedanken von einem düstern und verzweifelten Plane abzulenken, den er in sich herumwälzte.</p><lb/> <p>Schweig, Leonore, ich bitte dich, sagte er, barsch und heftig im Zimmer auf- und abstürmend, während Leonore sich blaß und verweint in eine Fensterecke drückte: ich bitte dich, schweig und mache mich nicht noch toller. Daß ich etwas thun muß, siehst du ja — und was sollte ich Besseres, Entscheidenderes thun? Ich will ein großes, ein unerhörtes Opfer bringen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
den Verboten des Alten, je wieder in seinen Gesichtskreis zu kommen.
Der junge Mann flüchtete sich mit der Last seines Herzens und seinem Ingrimm zu seiner Schwester. Leonore suchte ihn zu beruhigen, aber sie gewahrte bald, daß ihre sanften Worte keine Macht hatten über den Sturm, der in ihm tobte. Sie empfand dies tief. Ihr Vater hatte sich nie um sie und die Gefühle ihres Herzens gekümmert; sein Anblick schüchterte sie ein; er war ihr fremd, als ob eine Welt zwischen ihr und ihm liege; so hatte sie alle Empfindungen ihrer liebebedürftigen und in der Einsamkeit nach und nach zur Schwärmerei aufgeblühten jungen Seele dem Bruder zugewendet. Sie liebte nur ihn, sie kannte nur ihn, — er war ihr Stolz, ihre Zuversicht, die Hoffnung ihrer Zukunft, der Mittelpunkt ihrer Träumereien. Desto tiefer schmerzte es sie, daß sie jetzt so ganz ohne Einfluß auf ihn sei, daß ihre schmeichelnden, flehenden, beschwörenden Worte nicht vermochten, seine Gedanken von einem düstern und verzweifelten Plane abzulenken, den er in sich herumwälzte.
Schweig, Leonore, ich bitte dich, sagte er, barsch und heftig im Zimmer auf- und abstürmend, während Leonore sich blaß und verweint in eine Fensterecke drückte: ich bitte dich, schweig und mache mich nicht noch toller. Daß ich etwas thun muß, siehst du ja — und was sollte ich Besseres, Entscheidenderes thun? Ich will ein großes, ein unerhörtes Opfer bringen,
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