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Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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lassen. Ein frohes Erwachen war es nicht. Es lag auf ihrem Geiste ein niederdrückendes Gefühl, ein Gefühl wie bei einer großen Enttäuschung, wie bei dem Ausgehen einer letzten Lebenshoffnung. Der Gegenstand ihrer theuersten Wünsche war nicht das eigne, sondern das Glück ihres Bruders gewesen. In seiner Frau hatte sie eine warme, liebende Schwester für sich -- sie hatte in ihr einen Lebensengel für ihren Bruder zu finden erwartet. Daß dies kalte, theilnahmlose, geistig unmündige Wesen, welches sie an seiner Seite gefunden, für sie keine Liebe mitgebracht hatte, konnte sie überwinden. Aber mit Schrecken dachte sie an die Zukunft ihres Bruders in dieser Verbindung. Er wird sie tyrannisiren, sagte sie sich, und sie wird sich tyrannisiren lassen -- bis zu einem Punkte und Grade, wo eine Katastrophe ausbricht, welche Beider Lebensglück zerstört. Sie passen nicht zusammen. Joseph hätte einen großen, starken Charakter finden müssen, der ihn mit steter Achtung erfüllt und seine Leidenschaften geregelt hätte, oder eine Frau, deren flüssiger Geist und Koketterie ihn gefesselt!

In diese Sorge um den Bruder versunken, verschloß sie ein gewisses Gefühl persönlicher Kränkung und innerer Gereiztheit tief in ihr Herz. Sie hätte sich eine Egoistin gescholten, wenn sie den Klagen ihres Busens, auch bei Joseph so wenig Freude des Wiedersehens, so wenig brüderliche Wärme gefunden zu haben, in diesem Augenblick Gehör schenken können.

lassen. Ein frohes Erwachen war es nicht. Es lag auf ihrem Geiste ein niederdrückendes Gefühl, ein Gefühl wie bei einer großen Enttäuschung, wie bei dem Ausgehen einer letzten Lebenshoffnung. Der Gegenstand ihrer theuersten Wünsche war nicht das eigne, sondern das Glück ihres Bruders gewesen. In seiner Frau hatte sie eine warme, liebende Schwester für sich — sie hatte in ihr einen Lebensengel für ihren Bruder zu finden erwartet. Daß dies kalte, theilnahmlose, geistig unmündige Wesen, welches sie an seiner Seite gefunden, für sie keine Liebe mitgebracht hatte, konnte sie überwinden. Aber mit Schrecken dachte sie an die Zukunft ihres Bruders in dieser Verbindung. Er wird sie tyrannisiren, sagte sie sich, und sie wird sich tyrannisiren lassen — bis zu einem Punkte und Grade, wo eine Katastrophe ausbricht, welche Beider Lebensglück zerstört. Sie passen nicht zusammen. Joseph hätte einen großen, starken Charakter finden müssen, der ihn mit steter Achtung erfüllt und seine Leidenschaften geregelt hätte, oder eine Frau, deren flüssiger Geist und Koketterie ihn gefesselt!

In diese Sorge um den Bruder versunken, verschloß sie ein gewisses Gefühl persönlicher Kränkung und innerer Gereiztheit tief in ihr Herz. Sie hätte sich eine Egoistin gescholten, wenn sie den Klagen ihres Busens, auch bei Joseph so wenig Freude des Wiedersehens, so wenig brüderliche Wärme gefunden zu haben, in diesem Augenblick Gehör schenken können.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

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Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/60>, abgerufen am 18.12.2024.