Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.steht, auf Treppenstufen erhöht, ein Fauteuil, und über ihm hängen reiche Gewinde aus Blumen, unter denen vor allen die Lilie schimmert; ein schöner Mann von stolzer Haltung steigt die Stufen hinab und mischt sich unter die Andern: es ist ein Prinz von Frankreich, Karl von Artois; zwei andere Bourbons sind neben ihm, die beiden Conde, Vater und Sohn. Umher Sprossen der Häuser Crequy, Rohan, de la Tour d'Auvergne, Nivernois, Froulay, Croy, Montmorency, Elbeuf -- der ganze stolze Adel Frankreichs hat sich hier versammelt -- Alle, Alle sind sie da, bis auf diejenigen, welche ein Advocatensohn hat -- köpfen lassen. Wir sind auf einem Feste der Emigranten. Diese ganze glänzende Welt -- es sind heimatlose Flüchtlinge, dem Schwert entronnene Unglückliche ohne Habe und ohne Vaterland. Und doch so froh, so sorglos! Diese lachenden, kokettirenden Frauen -- sehen sie nicht die dunkeln Schatten hingerichteter Männer, Brüder, Söhne, welche durch die frohen Reihen schweben? Diese hochmüthigen, buhlende Blicke sendenden Männer, sehen sie nicht die blutige Hand, die sich über ihre Häupter ausstreckt? Hören sie nicht draußen den Ruf der Vernichtung, hören sie nicht die Schritte des vorüberwandelnden Racheengels, dessen Schatten über die strahlenden Wände gleiten muß, wie er draußen durch die Nacht schreitet, um die schlummernden Völker Europa's wach zu rufen? Nein. Sie wollen "nichts lernen und nichts ver- steht, auf Treppenstufen erhöht, ein Fauteuil, und über ihm hängen reiche Gewinde aus Blumen, unter denen vor allen die Lilie schimmert; ein schöner Mann von stolzer Haltung steigt die Stufen hinab und mischt sich unter die Andern: es ist ein Prinz von Frankreich, Karl von Artois; zwei andere Bourbons sind neben ihm, die beiden Condé, Vater und Sohn. Umher Sprossen der Häuser Crequy, Rohan, de la Tour d'Auvergne, Nivernois, Froulay, Croy, Montmorency, Elbeuf — der ganze stolze Adel Frankreichs hat sich hier versammelt — Alle, Alle sind sie da, bis auf diejenigen, welche ein Advocatensohn hat — köpfen lassen. Wir sind auf einem Feste der Emigranten. Diese ganze glänzende Welt — es sind heimatlose Flüchtlinge, dem Schwert entronnene Unglückliche ohne Habe und ohne Vaterland. Und doch so froh, so sorglos! Diese lachenden, kokettirenden Frauen — sehen sie nicht die dunkeln Schatten hingerichteter Männer, Brüder, Söhne, welche durch die frohen Reihen schweben? Diese hochmüthigen, buhlende Blicke sendenden Männer, sehen sie nicht die blutige Hand, die sich über ihre Häupter ausstreckt? Hören sie nicht draußen den Ruf der Vernichtung, hören sie nicht die Schritte des vorüberwandelnden Racheengels, dessen Schatten über die strahlenden Wände gleiten muß, wie er draußen durch die Nacht schreitet, um die schlummernden Völker Europa's wach zu rufen? Nein. Sie wollen „nichts lernen und nichts ver- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0079"/> steht, auf Treppenstufen erhöht, ein Fauteuil, und über ihm hängen reiche Gewinde aus Blumen, unter denen vor allen die Lilie schimmert; ein schöner Mann von stolzer Haltung steigt die Stufen hinab und mischt sich unter die Andern: es ist ein Prinz von Frankreich, Karl von Artois; zwei andere Bourbons sind neben ihm, die beiden Condé, Vater und Sohn. Umher Sprossen der Häuser Crequy, Rohan, de la Tour d'Auvergne, Nivernois, Froulay, Croy, Montmorency, Elbeuf — der ganze stolze Adel Frankreichs hat sich hier versammelt — Alle, Alle sind sie da, bis auf diejenigen, welche ein Advocatensohn hat — köpfen lassen.</p><lb/> <p>Wir sind auf einem Feste der Emigranten. Diese ganze glänzende Welt — es sind heimatlose Flüchtlinge, dem Schwert entronnene Unglückliche ohne Habe und ohne Vaterland. Und doch so froh, so sorglos! Diese lachenden, kokettirenden Frauen — sehen sie nicht die dunkeln Schatten hingerichteter Männer, Brüder, Söhne, welche durch die frohen Reihen schweben? Diese hochmüthigen, buhlende Blicke sendenden Männer, sehen sie nicht die blutige Hand, die sich über ihre Häupter ausstreckt? Hören sie nicht draußen den Ruf der Vernichtung, hören sie nicht die Schritte des vorüberwandelnden Racheengels, dessen Schatten über die strahlenden Wände gleiten muß, wie er draußen durch die Nacht schreitet, um die schlummernden Völker Europa's wach zu rufen?</p><lb/> <p>Nein. Sie wollen „nichts lernen und nichts ver-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0079]
steht, auf Treppenstufen erhöht, ein Fauteuil, und über ihm hängen reiche Gewinde aus Blumen, unter denen vor allen die Lilie schimmert; ein schöner Mann von stolzer Haltung steigt die Stufen hinab und mischt sich unter die Andern: es ist ein Prinz von Frankreich, Karl von Artois; zwei andere Bourbons sind neben ihm, die beiden Condé, Vater und Sohn. Umher Sprossen der Häuser Crequy, Rohan, de la Tour d'Auvergne, Nivernois, Froulay, Croy, Montmorency, Elbeuf — der ganze stolze Adel Frankreichs hat sich hier versammelt — Alle, Alle sind sie da, bis auf diejenigen, welche ein Advocatensohn hat — köpfen lassen.
Wir sind auf einem Feste der Emigranten. Diese ganze glänzende Welt — es sind heimatlose Flüchtlinge, dem Schwert entronnene Unglückliche ohne Habe und ohne Vaterland. Und doch so froh, so sorglos! Diese lachenden, kokettirenden Frauen — sehen sie nicht die dunkeln Schatten hingerichteter Männer, Brüder, Söhne, welche durch die frohen Reihen schweben? Diese hochmüthigen, buhlende Blicke sendenden Männer, sehen sie nicht die blutige Hand, die sich über ihre Häupter ausstreckt? Hören sie nicht draußen den Ruf der Vernichtung, hören sie nicht die Schritte des vorüberwandelnden Racheengels, dessen Schatten über die strahlenden Wände gleiten muß, wie er draußen durch die Nacht schreitet, um die schlummernden Völker Europa's wach zu rufen?
Nein. Sie wollen „nichts lernen und nichts ver-
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