Jetzt stand der Morgenstern über dem Bergesgipfel; günstiger Wind erhub sich. Der Steuermann ermahnte die Helden ihn zu benützen und das Schiff zu besteigen. Schon fuhren sie im Morgenlichte fröhlich dahin, als ihnen zu spät einfiel, daß zwei ihrer Genossen, Polyphe¬ mus und Herkules, von ihnen am Ufer zurückgelassen worden. Ein stürmischer Streit erhob sich unter den Helden, ob sie ohne die tapfersten Begleiter weiter segeln sollten. Jason sprach kein Wort; stille saß er und der Kummer fraß ihm am Herzen, den Telamon aber über¬ mannte der Zorn: "Wie kannst du so ruhig sitzen?" rief er dem Führer zu; "gewiß fürchtetest du, Herkules möchte deinen Ruhm verdunkeln! Doch was helfen da Worte? und wenn alle Genossen mit dir einverstanden wären, so will ich allein zu dem verlassenen Helden umkehren." Mit diesen Worten faßte er den Steuermann Tiphys an der Brust, seine Augen funkelten wie Feuerflammen, und gewiß hätte er sie gezwungen, nach dem Gestade der Mysier zurückzukehren, wenn nicht die beiden Söhne des Boreas, Kalais und Zethes, ihm in den Arm gefallen wären und ihn mit scheltenden Worten zurückgehalten hätten. Zugleich stieg aus der schäumenden Fluth Glau¬ kus, der Meergott, hervor, faßte mit starker Hand das Ende des Schiffes und rief den Eilenden zu: "Ihr Hel¬ den, was streitet ihr euch? Was begehret ihr wider den Willen Jupiters, den muthigen Herkules mit euch in das Land des Aeetes zu führen? Ihm sind ganz andere Arbeiten zu verrichten vom Schicksale bestimmt. Den Hylas hat eine liebende Nymphe geraubt, und ihm zu lieb ist er zurück¬ geblieben." Nachdem er ihnen Solches geoffenbart, tauchte Glaukus wieder in die Tiefe nieder, und das dunkle
Jetzt ſtand der Morgenſtern über dem Bergesgipfel; günſtiger Wind erhub ſich. Der Steuermann ermahnte die Helden ihn zu benützen und das Schiff zu beſteigen. Schon fuhren ſie im Morgenlichte fröhlich dahin, als ihnen zu ſpät einfiel, daß zwei ihrer Genoſſen, Polyphe¬ mus und Herkules, von ihnen am Ufer zurückgelaſſen worden. Ein ſtürmiſcher Streit erhob ſich unter den Helden, ob ſie ohne die tapferſten Begleiter weiter ſegeln ſollten. Jaſon ſprach kein Wort; ſtille ſaß er und der Kummer fraß ihm am Herzen, den Telamon aber über¬ mannte der Zorn: „Wie kannſt du ſo ruhig ſitzen?“ rief er dem Führer zu; „gewiß fürchteteſt du, Herkules möchte deinen Ruhm verdunkeln! Doch was helfen da Worte? und wenn alle Genoſſen mit dir einverſtanden wären, ſo will ich allein zu dem verlaſſenen Helden umkehren.“ Mit dieſen Worten faßte er den Steuermann Tiphys an der Bruſt, ſeine Augen funkelten wie Feuerflammen, und gewiß hätte er ſie gezwungen, nach dem Geſtade der Myſier zurückzukehren, wenn nicht die beiden Söhne des Boreas, Kalais und Zethes, ihm in den Arm gefallen wären und ihn mit ſcheltenden Worten zurückgehalten hätten. Zugleich ſtieg aus der ſchäumenden Fluth Glau¬ kus, der Meergott, hervor, faßte mit ſtarker Hand das Ende des Schiffes und rief den Eilenden zu: „Ihr Hel¬ den, was ſtreitet ihr euch? Was begehret ihr wider den Willen Jupiters, den muthigen Herkules mit euch in das Land des Aeetes zu führen? Ihm ſind ganz andere Arbeiten zu verrichten vom Schickſale beſtimmt. Den Hylas hat eine liebende Nymphe geraubt, und ihm zu lieb iſt er zurück¬ geblieben.“ Nachdem er ihnen Solches geoffenbart, tauchte Glaukus wieder in die Tiefe nieder, und das dunkle
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0131"n="105"/><p>Jetzt ſtand der Morgenſtern über dem Bergesgipfel;<lb/>
günſtiger Wind erhub ſich. Der Steuermann ermahnte<lb/>
die Helden ihn zu benützen und das Schiff zu beſteigen.<lb/>
Schon fuhren ſie im Morgenlichte fröhlich dahin, als<lb/>
ihnen zu ſpät einfiel, daß zwei ihrer Genoſſen, Polyphe¬<lb/>
mus und Herkules, von ihnen am Ufer zurückgelaſſen<lb/>
worden. Ein ſtürmiſcher Streit erhob ſich unter den<lb/>
Helden, ob ſie ohne die tapferſten Begleiter weiter ſegeln<lb/>ſollten. Jaſon ſprach kein Wort; ſtille ſaß er und der<lb/>
Kummer fraß ihm am Herzen, den Telamon aber über¬<lb/>
mannte der Zorn: „Wie kannſt du ſo ruhig ſitzen?“ rief<lb/>
er dem Führer zu; „gewiß fürchteteſt du, Herkules möchte<lb/>
deinen Ruhm verdunkeln! Doch was helfen da Worte?<lb/>
und wenn alle Genoſſen mit dir einverſtanden wären, ſo<lb/>
will ich allein zu dem verlaſſenen Helden umkehren.“<lb/>
Mit dieſen Worten faßte er den Steuermann Tiphys<lb/>
an der Bruſt, ſeine Augen funkelten wie Feuerflammen,<lb/>
und gewiß hätte er ſie gezwungen, nach dem Geſtade der<lb/>
Myſier zurückzukehren, wenn nicht die beiden Söhne des<lb/>
Boreas, Kalais und Zethes, ihm in den Arm gefallen<lb/>
wären und ihn mit ſcheltenden Worten zurückgehalten<lb/>
hätten. Zugleich ſtieg aus der ſchäumenden Fluth Glau¬<lb/>
kus, der Meergott, hervor, faßte mit ſtarker Hand das<lb/>
Ende des Schiffes und rief den Eilenden zu: „Ihr Hel¬<lb/>
den, was ſtreitet ihr euch? Was begehret ihr wider den<lb/>
Willen Jupiters, den muthigen Herkules mit euch in das<lb/>
Land des Aeetes zu führen? Ihm ſind ganz andere Arbeiten<lb/>
zu verrichten vom Schickſale beſtimmt. Den Hylas hat eine<lb/>
liebende Nymphe geraubt, und ihm zu lieb iſt er zurück¬<lb/>
geblieben.“ Nachdem er ihnen Solches geoffenbart, tauchte<lb/>
Glaukus wieder in die Tiefe nieder, und das dunkle<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[105/0131]
Jetzt ſtand der Morgenſtern über dem Bergesgipfel;
günſtiger Wind erhub ſich. Der Steuermann ermahnte
die Helden ihn zu benützen und das Schiff zu beſteigen.
Schon fuhren ſie im Morgenlichte fröhlich dahin, als
ihnen zu ſpät einfiel, daß zwei ihrer Genoſſen, Polyphe¬
mus und Herkules, von ihnen am Ufer zurückgelaſſen
worden. Ein ſtürmiſcher Streit erhob ſich unter den
Helden, ob ſie ohne die tapferſten Begleiter weiter ſegeln
ſollten. Jaſon ſprach kein Wort; ſtille ſaß er und der
Kummer fraß ihm am Herzen, den Telamon aber über¬
mannte der Zorn: „Wie kannſt du ſo ruhig ſitzen?“ rief
er dem Führer zu; „gewiß fürchteteſt du, Herkules möchte
deinen Ruhm verdunkeln! Doch was helfen da Worte?
und wenn alle Genoſſen mit dir einverſtanden wären, ſo
will ich allein zu dem verlaſſenen Helden umkehren.“
Mit dieſen Worten faßte er den Steuermann Tiphys
an der Bruſt, ſeine Augen funkelten wie Feuerflammen,
und gewiß hätte er ſie gezwungen, nach dem Geſtade der
Myſier zurückzukehren, wenn nicht die beiden Söhne des
Boreas, Kalais und Zethes, ihm in den Arm gefallen
wären und ihn mit ſcheltenden Worten zurückgehalten
hätten. Zugleich ſtieg aus der ſchäumenden Fluth Glau¬
kus, der Meergott, hervor, faßte mit ſtarker Hand das
Ende des Schiffes und rief den Eilenden zu: „Ihr Hel¬
den, was ſtreitet ihr euch? Was begehret ihr wider den
Willen Jupiters, den muthigen Herkules mit euch in das
Land des Aeetes zu führen? Ihm ſind ganz andere Arbeiten
zu verrichten vom Schickſale beſtimmt. Den Hylas hat eine
liebende Nymphe geraubt, und ihm zu lieb iſt er zurück¬
geblieben.“ Nachdem er ihnen Solches geoffenbart, tauchte
Glaukus wieder in die Tiefe nieder, und das dunkle
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/131>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.