Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Falten ihres purpurnen Gewandes empor und bestieg die
Schiffsgänge, über welche Jasons Hand sie hinleitete.
Mit schauerlicher Zauberformel rief sie dreimal die le¬
benraubenden Parzen an, die schnellen Hunde der Un¬
terwelt, die in der Luft hausend allenthalben nach den
Lebendigen jagen. Hierauf verzauberte sie die Augenlie¬
der des ehernen Talos, daß sie sich schloßen und schwarze
Traumbilder vor seine Seele traten. Er sank im Schlafe
zusammen, und stieß den fleischernen Knöchel an eine
spitze Felsenkante, daß das Blut, wie flüssiges Blei,
aus der Wunde quoll. Von dem Schmerz aufgeweckt,
versuchte er es wieder einen Augenblick sich aufzurichten;
aber, wie eine halb angehauene Fichte der erste Wind¬
stoß erschüttert und sie endlich krachend in die Tiefe stürzt,
so taumelte er noch eine kurze Zeit auf seinen Füßen und
stürzte dann entseelt, mit ungeheurem Schall, in die Mee¬
restiefe.

Jetzt konnten die Genossen ungefährdet landen, und
erholten sich auf dem gesegneten Eilande bis zum Mor¬
gen. Kaum über Kreta hinausgeschifft, erschreckte sie ein
neues Abentheuer. Eine entsetzliche Nacht brach ein, die
kein Strahl des Mondes, kein Stern erleuchtete; als
wäre alle Finsterniß aus dem Abgrunde losgelassen, so
schwarz war die Luft, sie wußten nicht, ob sie auf dem
Meere, oder in den Fluthen des Tartarus schifften. Mit
aufgehobenen Händen flehte Jason zu Phöbus Apollo,
sie aus diesem gräßlichen Dunkel zu befreien; Angstthrä¬
nen stürzten ihm von den Wangen, und er versprach dem
Gotte die herrlichsten Weihgeschenke. Dieser vernahm
sein Flehen, er kam vom Olymp hernieder, sprang auf
einen Meerfels, und den goldenen Bogen hoch in den

Falten ihres purpurnen Gewandes empor und beſtieg die
Schiffsgänge, über welche Jaſons Hand ſie hinleitete.
Mit ſchauerlicher Zauberformel rief ſie dreimal die le¬
benraubenden Parzen an, die ſchnellen Hunde der Un¬
terwelt, die in der Luft hauſend allenthalben nach den
Lebendigen jagen. Hierauf verzauberte ſie die Augenlie¬
der des ehernen Talos, daß ſie ſich ſchloßen und ſchwarze
Traumbilder vor ſeine Seele traten. Er ſank im Schlafe
zuſammen, und ſtieß den fleiſchernen Knöchel an eine
ſpitze Felſenkante, daß das Blut, wie flüſſiges Blei,
aus der Wunde quoll. Von dem Schmerz aufgeweckt,
verſuchte er es wieder einen Augenblick ſich aufzurichten;
aber, wie eine halb angehauene Fichte der erſte Wind¬
ſtoß erſchüttert und ſie endlich krachend in die Tiefe ſtürzt,
ſo taumelte er noch eine kurze Zeit auf ſeinen Füßen und
ſtürzte dann entſeelt, mit ungeheurem Schall, in die Mee¬
restiefe.

Jetzt konnten die Genoſſen ungefährdet landen, und
erholten ſich auf dem geſegneten Eilande bis zum Mor¬
gen. Kaum über Kreta hinausgeſchifft, erſchreckte ſie ein
neues Abentheuer. Eine entſetzliche Nacht brach ein, die
kein Strahl des Mondes, kein Stern erleuchtete; als
wäre alle Finſterniß aus dem Abgrunde losgelaſſen, ſo
ſchwarz war die Luft, ſie wußten nicht, ob ſie auf dem
Meere, oder in den Fluthen des Tartarus ſchifften. Mit
aufgehobenen Händen flehte Jaſon zu Phöbus Apollo,
ſie aus dieſem gräßlichen Dunkel zu befreien; Angſtthrä¬
nen ſtürzten ihm von den Wangen, und er verſprach dem
Gotte die herrlichſten Weihgeſchenke. Dieſer vernahm
ſein Flehen, er kam vom Olymp hernieder, ſprang auf
einen Meerfels, und den goldenen Bogen hoch in den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0194" n="168"/>
Falten ihres purpurnen Gewandes empor und be&#x017F;tieg die<lb/>
Schiffsgänge, über welche Ja&#x017F;ons Hand &#x017F;ie hinleitete.<lb/>
Mit &#x017F;chauerlicher Zauberformel rief &#x017F;ie dreimal die le¬<lb/>
benraubenden Parzen an, die &#x017F;chnellen Hunde der Un¬<lb/>
terwelt, die in der Luft hau&#x017F;end allenthalben nach den<lb/>
Lebendigen jagen. Hierauf verzauberte &#x017F;ie die Augenlie¬<lb/>
der des ehernen Talos, daß &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;chloßen und &#x017F;chwarze<lb/>
Traumbilder vor &#x017F;eine Seele traten. Er &#x017F;ank im Schlafe<lb/>
zu&#x017F;ammen, und &#x017F;tieß den flei&#x017F;chernen Knöchel an eine<lb/>
&#x017F;pitze Fel&#x017F;enkante, daß das Blut, wie flü&#x017F;&#x017F;iges Blei,<lb/>
aus der Wunde quoll. Von dem Schmerz aufgeweckt,<lb/>
ver&#x017F;uchte er es wieder einen Augenblick &#x017F;ich aufzurichten;<lb/>
aber, wie eine halb angehauene Fichte der er&#x017F;te Wind¬<lb/>
&#x017F;toß er&#x017F;chüttert und &#x017F;ie endlich krachend in die Tiefe &#x017F;türzt,<lb/>
&#x017F;o taumelte er noch eine kurze Zeit auf &#x017F;einen Füßen und<lb/>
&#x017F;türzte dann ent&#x017F;eelt, mit ungeheurem Schall, in die Mee¬<lb/>
restiefe.</p><lb/>
            <p>Jetzt konnten die Geno&#x017F;&#x017F;en ungefährdet landen, und<lb/>
erholten &#x017F;ich auf dem ge&#x017F;egneten Eilande bis zum Mor¬<lb/>
gen. Kaum über Kreta hinausge&#x017F;chifft, er&#x017F;chreckte &#x017F;ie ein<lb/>
neues Abentheuer. Eine ent&#x017F;etzliche Nacht brach ein, die<lb/>
kein Strahl des Mondes, kein Stern erleuchtete; als<lb/>
wäre alle Fin&#x017F;terniß aus dem Abgrunde losgela&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chwarz war die Luft, &#x017F;ie wußten nicht, ob &#x017F;ie auf dem<lb/>
Meere, oder in den Fluthen des Tartarus &#x017F;chifften. Mit<lb/>
aufgehobenen Händen flehte Ja&#x017F;on zu Phöbus Apollo,<lb/>
&#x017F;ie aus die&#x017F;em gräßlichen Dunkel zu befreien; Ang&#x017F;tthrä¬<lb/>
nen &#x017F;türzten ihm von den Wangen, und er ver&#x017F;prach dem<lb/>
Gotte die herrlich&#x017F;ten Weihge&#x017F;chenke. Die&#x017F;er vernahm<lb/>
&#x017F;ein Flehen, er kam vom Olymp hernieder, &#x017F;prang auf<lb/>
einen Meerfels, und den goldenen Bogen hoch in den<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0194] Falten ihres purpurnen Gewandes empor und beſtieg die Schiffsgänge, über welche Jaſons Hand ſie hinleitete. Mit ſchauerlicher Zauberformel rief ſie dreimal die le¬ benraubenden Parzen an, die ſchnellen Hunde der Un¬ terwelt, die in der Luft hauſend allenthalben nach den Lebendigen jagen. Hierauf verzauberte ſie die Augenlie¬ der des ehernen Talos, daß ſie ſich ſchloßen und ſchwarze Traumbilder vor ſeine Seele traten. Er ſank im Schlafe zuſammen, und ſtieß den fleiſchernen Knöchel an eine ſpitze Felſenkante, daß das Blut, wie flüſſiges Blei, aus der Wunde quoll. Von dem Schmerz aufgeweckt, verſuchte er es wieder einen Augenblick ſich aufzurichten; aber, wie eine halb angehauene Fichte der erſte Wind¬ ſtoß erſchüttert und ſie endlich krachend in die Tiefe ſtürzt, ſo taumelte er noch eine kurze Zeit auf ſeinen Füßen und ſtürzte dann entſeelt, mit ungeheurem Schall, in die Mee¬ restiefe. Jetzt konnten die Genoſſen ungefährdet landen, und erholten ſich auf dem geſegneten Eilande bis zum Mor¬ gen. Kaum über Kreta hinausgeſchifft, erſchreckte ſie ein neues Abentheuer. Eine entſetzliche Nacht brach ein, die kein Strahl des Mondes, kein Stern erleuchtete; als wäre alle Finſterniß aus dem Abgrunde losgelaſſen, ſo ſchwarz war die Luft, ſie wußten nicht, ob ſie auf dem Meere, oder in den Fluthen des Tartarus ſchifften. Mit aufgehobenen Händen flehte Jaſon zu Phöbus Apollo, ſie aus dieſem gräßlichen Dunkel zu befreien; Angſtthrä¬ nen ſtürzten ihm von den Wangen, und er verſprach dem Gotte die herrlichſten Weihgeſchenke. Dieſer vernahm ſein Flehen, er kam vom Olymp hernieder, ſprang auf einen Meerfels, und den goldenen Bogen hoch in den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/194
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/194>, abgerufen am 06.05.2024.