Niobe, die Königin von Theben, war auf Vieles stolz. Amphion, ihr Gemahl, hatte von den Musen die herrliche Leyer erhalten, auf deren Spiel sich die Steine der Thebischen Königsburg von selbst zusammensetzten; ihr Ahnherr war Tantalus, der Gast der Götter; sie war die Gebieterin eines gewaltigen Reiches und selbst voll Hoheit des Geistes und von majestätischer Schönheit; nichts aber von allem diesem schmeichelte ihr so sehr, als die stattliche Zahl ihrer vierzehn blühenden Kinder, die zur einen Hälfte Söhne und zur andern Töchter waren. Auch hieß Niobe unter allen Müttern die glücklichste, und sie wäre es gewesen, wenn sie nur sich selbst nicht dafür ge¬ halten hätte; so aber wurde das Bewußtseyn ihres Glückes ihr Verderben.
Einst rief die Seherin Manto, die Tochter des Wahr¬ sagers Tiresias, von göttlicher Regung angetrieben, mit¬ ten in den Straßen die Frauen Thebens zur Verehrung Latona's und ihrer Zwillingskinder, Apollo's und Dianens auf, hieß sie die Haare mit Lorbeern bekränzen und from¬ mes Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. Als nun die Thebanerinnen zusammenströmten, kam auf einmal Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges, mit einem golddurchwirkten Gewande angethan, prunkend einherge¬ rauscht. Sie strahlte von Schönheit, soweit es der Zorn zuließ, ihr schmuckes Haupt bewegte sich zugleich mit dem über beide Schultern herabwallenden Haar. So stand sie in der Mitte der, unter freiem Himmel, mit dem Opfer beschäftigten Frauen, ließ die Augen voll Hoheit auf dem
Niobe.
Niobe, die Königin von Theben, war auf Vieles ſtolz. Amphion, ihr Gemahl, hatte von den Muſen die herrliche Leyer erhalten, auf deren Spiel ſich die Steine der Thebiſchen Königsburg von ſelbſt zuſammenſetzten; ihr Ahnherr war Tantalus, der Gaſt der Götter; ſie war die Gebieterin eines gewaltigen Reiches und ſelbſt voll Hoheit des Geiſtes und von majeſtätiſcher Schönheit; nichts aber von allem dieſem ſchmeichelte ihr ſo ſehr, als die ſtattliche Zahl ihrer vierzehn blühenden Kinder, die zur einen Hälfte Söhne und zur andern Töchter waren. Auch hieß Niobe unter allen Müttern die glücklichſte, und ſie wäre es geweſen, wenn ſie nur ſich ſelbſt nicht dafür ge¬ halten hätte; ſo aber wurde das Bewußtſeyn ihres Glückes ihr Verderben.
Einſt rief die Seherin Manto, die Tochter des Wahr¬ ſagers Tireſias, von göttlicher Regung angetrieben, mit¬ ten in den Straßen die Frauen Thebens zur Verehrung Latona's und ihrer Zwillingskinder, Apollo's und Dianens auf, hieß ſie die Haare mit Lorbeern bekränzen und from¬ mes Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. Als nun die Thebanerinnen zuſammenſtrömten, kam auf einmal Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges, mit einem golddurchwirkten Gewande angethan, prunkend einherge¬ rauſcht. Sie ſtrahlte von Schönheit, ſoweit es der Zorn zuließ, ihr ſchmuckes Haupt bewegte ſich zugleich mit dem über beide Schultern herabwallenden Haar. So ſtand ſie in der Mitte der, unter freiem Himmel, mit dem Opfer beſchäftigten Frauen, ließ die Augen voll Hoheit auf dem
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Niobe.
Niobe, die Königin von Theben, war auf Vieles
ſtolz. Amphion, ihr Gemahl, hatte von den Muſen die
herrliche Leyer erhalten, auf deren Spiel ſich die Steine
der Thebiſchen Königsburg von ſelbſt zuſammenſetzten; ihr
Ahnherr war Tantalus, der Gaſt der Götter; ſie war
die Gebieterin eines gewaltigen Reiches und ſelbſt voll
Hoheit des Geiſtes und von majeſtätiſcher Schönheit;
nichts aber von allem dieſem ſchmeichelte ihr ſo ſehr, als
die ſtattliche Zahl ihrer vierzehn blühenden Kinder, die zur
einen Hälfte Söhne und zur andern Töchter waren. Auch
hieß Niobe unter allen Müttern die glücklichſte, und ſie
wäre es geweſen, wenn ſie nur ſich ſelbſt nicht dafür ge¬
halten hätte; ſo aber wurde das Bewußtſeyn ihres Glückes
ihr Verderben.
Einſt rief die Seherin Manto, die Tochter des Wahr¬
ſagers Tireſias, von göttlicher Regung angetrieben, mit¬
ten in den Straßen die Frauen Thebens zur Verehrung
Latona's und ihrer Zwillingskinder, Apollo's und Dianens
auf, hieß ſie die Haare mit Lorbeern bekränzen und from¬
mes Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. Als nun
die Thebanerinnen zuſammenſtrömten, kam auf einmal
Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges, mit einem
golddurchwirkten Gewande angethan, prunkend einherge¬
rauſcht. Sie ſtrahlte von Schönheit, ſoweit es der Zorn
zuließ, ihr ſchmuckes Haupt bewegte ſich zugleich mit dem
über beide Schultern herabwallenden Haar. So ſtand ſie
in der Mitte der, unter freiem Himmel, mit dem Opfer
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/217>, abgerufen am 21.11.2024.
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