Hinüberschaffen dem Nessus, der ihn um den gewohnten Lohn ansprach; der Centaur nahm die Gemahlin des Her¬ kules auf die Schulter und trug sie rüstig durch das Wasser. Mitten in der Fuhrt aber, durch die Schönheit des Weibes bethört, wagte er es, sie mit schnöder Hand anzurühren. Herkules, der am Ufer war, hörte den Hül¬ feruf seiner Frau und wendete sich schnell um. Als er sie in der Gewalt des rauhbehaarten Halbmenschen sah, besann er sich nicht lange, holte aus seinem Köcher ei¬ nen beflügelten Pfeil hervor, und schoß den Nessus, der mit seiner Beute eben ans Ufer emporstieg, durch den Rücken, so daß das Geschoß zur Brust wieder heraus¬ ging. Deianira hatte sich den Armen des zu Boden Sinkenden entwunden, und wollte ihrem Gatten zueilen, als der Sterbende, der noch im Tod auf Rache sann, sie zurückrief und die trügerischen Worte sprach: "Höre mich, Tochter des Oeneus! Weil du die letzte bist, die ich getragen habe, so sollst du auch noch einen Vortheil von meinem Dienste haben, wenn du mir folgen willst! Fasse das frische Blut auf, das mir aus der Todes¬ wunde quoll, und jetzt da, wo der Pfeil, vom Geifer der lernäischen Schlange vergiftet, mir im Leibe steckt, ganz verdickt und leicht zu sammeln ringsum steht, so wird es dir zu einem Zauber für das Gemüth deines Gatten dienen; färbst du damit sein Unterkleid, so wird er niemals ein anderes Weib, das ihm je vorkommt, mehr lieben, denn dich allein!" Nachdem er Deianiren dieses tückische Vermächtniß hinterlassen, verschied er augenblick¬ lich an der vergifteten Wunde Deianira, obgleich sie an der Liebe ihres Gatten nicht zweifelte, that doch nach seiner Vorschrift, sammelte das verdickte Blut in ein Ge¬
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Hinüberſchaffen dem Neſſus, der ihn um den gewohnten Lohn anſprach; der Centaur nahm die Gemahlin des Her¬ kules auf die Schulter und trug ſie rüſtig durch das Waſſer. Mitten in der Fuhrt aber, durch die Schönheit des Weibes bethört, wagte er es, ſie mit ſchnöder Hand anzurühren. Herkules, der am Ufer war, hörte den Hül¬ feruf ſeiner Frau und wendete ſich ſchnell um. Als er ſie in der Gewalt des rauhbehaarten Halbmenſchen ſah, beſann er ſich nicht lange, holte aus ſeinem Köcher ei¬ nen beflügelten Pfeil hervor, und ſchoß den Neſſus, der mit ſeiner Beute eben ans Ufer emporſtieg, durch den Rücken, ſo daß das Geſchoß zur Bruſt wieder heraus¬ ging. Deïanira hatte ſich den Armen des zu Boden Sinkenden entwunden, und wollte ihrem Gatten zueilen, als der Sterbende, der noch im Tod auf Rache ſann, ſie zurückrief und die trügeriſchen Worte ſprach: „Höre mich, Tochter des Oeneus! Weil du die letzte biſt, die ich getragen habe, ſo ſollſt du auch noch einen Vortheil von meinem Dienſte haben, wenn du mir folgen willſt! Faſſe das friſche Blut auf, das mir aus der Todes¬ wunde quoll, und jetzt da, wo der Pfeil, vom Geifer der lernäiſchen Schlange vergiftet, mir im Leibe ſteckt, ganz verdickt und leicht zu ſammeln ringsum ſteht, ſo wird es dir zu einem Zauber für das Gemüth deines Gatten dienen; färbſt du damit ſein Unterkleid, ſo wird er niemals ein anderes Weib, das ihm je vorkommt, mehr lieben, denn dich allein!“ Nachdem er Deïaniren dieſes tückiſche Vermächtniß hinterlaſſen, verſchied er augenblick¬ lich an der vergifteten Wunde Deïanira, obgleich ſie an der Liebe ihres Gatten nicht zweifelte, that doch nach ſeiner Vorſchrift, ſammelte das verdickte Blut in ein Ge¬
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Hinüberſchaffen dem Neſſus, der ihn um den gewohnten
Lohn anſprach; der Centaur nahm die Gemahlin des Her¬
kules auf die Schulter und trug ſie rüſtig durch das
Waſſer. Mitten in der Fuhrt aber, durch die Schönheit
des Weibes bethört, wagte er es, ſie mit ſchnöder Hand
anzurühren. Herkules, der am Ufer war, hörte den Hül¬
feruf ſeiner Frau und wendete ſich ſchnell um. Als er
ſie in der Gewalt des rauhbehaarten Halbmenſchen ſah,
beſann er ſich nicht lange, holte aus ſeinem Köcher ei¬
nen beflügelten Pfeil hervor, und ſchoß den Neſſus, der
mit ſeiner Beute eben ans Ufer emporſtieg, durch den
Rücken, ſo daß das Geſchoß zur Bruſt wieder heraus¬
ging. Deïanira hatte ſich den Armen des zu Boden
Sinkenden entwunden, und wollte ihrem Gatten zueilen,
als der Sterbende, der noch im Tod auf Rache ſann,
ſie zurückrief und die trügeriſchen Worte ſprach: „Höre
mich, Tochter des Oeneus! Weil du die letzte biſt, die
ich getragen habe, ſo ſollſt du auch noch einen Vortheil
von meinem Dienſte haben, wenn du mir folgen willſt!
Faſſe das friſche Blut auf, das mir aus der Todes¬
wunde quoll, und jetzt da, wo der Pfeil, vom Geifer
der lernäiſchen Schlange vergiftet, mir im Leibe ſteckt,
ganz verdickt und leicht zu ſammeln ringsum ſteht, ſo
wird es dir zu einem Zauber für das Gemüth deines
Gatten dienen; färbſt du damit ſein Unterkleid, ſo wird
er niemals ein anderes Weib, das ihm je vorkommt, mehr
lieben, denn dich allein!“ Nachdem er Deïaniren dieſes
tückiſche Vermächtniß hinterlaſſen, verſchied er augenblick¬
lich an der vergifteten Wunde Deïanira, obgleich ſie
an der Liebe ihres Gatten nicht zweifelte, that doch nach
ſeiner Vorſchrift, ſammelte das verdickte Blut in ein Ge¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/285>, abgerufen am 22.11.2024.
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