Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

des zu betrachten, schmerzten diese Klagen. Er stand
in der Volksversammlung auf und erklärte sich bereit, an
dem Tribut Theil zu nehmen und sich selbst ohne Loos hin¬
zugeben. Alles Volk bewunderte seinen Edelmuth und
aufopfernden Bürgersinn, auch blieb sein Entschluß, ob¬
gleich sein Vater ihn mit den dringendsten Bitten be¬
stürmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn
und Erben zu besitzen, doch nicht sobald wieder berauben
solle, unerschütterlich fest. Seinen Vater aber beruhigte
er durch die zuversichtliche Versicherung, daß er mit den
herausgelosten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das
Verderben gehe, sondern den Minotaurus bezwingen werde.
Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer
nach Creta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslo¬
sigkeit mit schwarzem Segel abgesendet worden. Jetzt aber,
als Aegeus seinen Sohn mit so kühnem Stolze sprechen
hörte, rüstete er zwar das Schiff noch auf dieselbe Weise
aus: doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel
von weißer Farbe mit, und befahl ihm, wenn Theseus
gerettet zurückkehre, dieses auszuspannen: wo nicht, mit
dem schwarzen zurückzukehren, und so das Unglück zum
Voraus anzukündigen.

Als nun das Loos gezogen war, führte der junge
Theseus die Knaben und Mädchen, die es getroffen
hatte, zuerst in den Tempel des Apollo, und brachte dem
Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwunde¬
nen Oelzweig, das Weihgeschenk der Schutzstehenden,
dar. Nachdem er das feierliche Gebet gesprochen, ging
er von allem Volke begleitet mit den auserlesenen Jüng¬
lingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und bestieg
das Trauerschiff.

des zu betrachten, ſchmerzten dieſe Klagen. Er ſtand
in der Volksverſammlung auf und erklärte ſich bereit, an
dem Tribut Theil zu nehmen und ſich ſelbſt ohne Loos hin¬
zugeben. Alles Volk bewunderte ſeinen Edelmuth und
aufopfernden Bürgerſinn, auch blieb ſein Entſchluß, ob¬
gleich ſein Vater ihn mit den dringendſten Bitten be¬
ſtürmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn
und Erben zu beſitzen, doch nicht ſobald wieder berauben
ſolle, unerſchütterlich feſt. Seinen Vater aber beruhigte
er durch die zuverſichtliche Verſicherung, daß er mit den
herausgelosten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das
Verderben gehe, ſondern den Minotaurus bezwingen werde.
Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer
nach Creta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslo¬
ſigkeit mit ſchwarzem Segel abgeſendet worden. Jetzt aber,
als Aegeus ſeinen Sohn mit ſo kühnem Stolze ſprechen
hörte, rüſtete er zwar das Schiff noch auf dieſelbe Weiſe
aus: doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel
von weißer Farbe mit, und befahl ihm, wenn Theſeus
gerettet zurückkehre, dieſes auszuſpannen: wo nicht, mit
dem ſchwarzen zurückzukehren, und ſo das Unglück zum
Voraus anzukündigen.

Als nun das Loos gezogen war, führte der junge
Theſeus die Knaben und Mädchen, die es getroffen
hatte, zuerſt in den Tempel des Apollo, und brachte dem
Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwunde¬
nen Oelzweig, das Weihgeſchenk der Schutzſtehenden,
dar. Nachdem er das feierliche Gebet geſprochen, ging
er von allem Volke begleitet mit den auserleſenen Jüng¬
lingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und beſtieg
das Trauerſchiff.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0313" n="287"/>
des zu betrachten, &#x017F;chmerzten die&#x017F;e Klagen. Er &#x017F;tand<lb/>
in der Volksver&#x017F;ammlung auf und erklärte &#x017F;ich bereit, an<lb/>
dem Tribut Theil zu nehmen und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ohne Loos hin¬<lb/>
zugeben. Alles Volk bewunderte &#x017F;einen Edelmuth und<lb/>
aufopfernden Bürger&#x017F;inn, auch blieb &#x017F;ein Ent&#x017F;chluß, ob¬<lb/>
gleich &#x017F;ein Vater ihn mit den dringend&#x017F;ten Bitten be¬<lb/>
&#x017F;türmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn<lb/>
und Erben zu be&#x017F;itzen, doch nicht &#x017F;obald wieder berauben<lb/>
&#x017F;olle, uner&#x017F;chütterlich fe&#x017F;t. Seinen Vater aber beruhigte<lb/>
er durch die zuver&#x017F;ichtliche Ver&#x017F;icherung, daß er mit den<lb/>
herausgelosten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das<lb/>
Verderben gehe, &#x017F;ondern den Minotaurus bezwingen werde.<lb/>
Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer<lb/>
nach Creta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslo¬<lb/>
&#x017F;igkeit mit &#x017F;chwarzem Segel abge&#x017F;endet worden. Jetzt aber,<lb/>
als Aegeus &#x017F;einen Sohn mit &#x017F;o kühnem Stolze &#x017F;prechen<lb/>
hörte, rü&#x017F;tete er zwar das Schiff noch auf die&#x017F;elbe Wei&#x017F;e<lb/>
aus: doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel<lb/>
von weißer Farbe mit, und befahl ihm, wenn The&#x017F;eus<lb/>
gerettet zurückkehre, die&#x017F;es auszu&#x017F;pannen: wo nicht, mit<lb/>
dem &#x017F;chwarzen zurückzukehren, und &#x017F;o das Unglück zum<lb/>
Voraus anzukündigen.</p><lb/>
            <p>Als nun das Loos gezogen war, führte der junge<lb/>
The&#x017F;eus die Knaben und Mädchen, die es getroffen<lb/>
hatte, zuer&#x017F;t in den Tempel des Apollo, und brachte dem<lb/>
Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwunde¬<lb/>
nen Oelzweig, das Weihge&#x017F;chenk der Schutz&#x017F;tehenden,<lb/>
dar. Nachdem er das feierliche Gebet ge&#x017F;prochen, ging<lb/>
er von allem Volke begleitet mit den auserle&#x017F;enen Jüng¬<lb/>
lingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und be&#x017F;tieg<lb/>
das Trauer&#x017F;chiff.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0313] des zu betrachten, ſchmerzten dieſe Klagen. Er ſtand in der Volksverſammlung auf und erklärte ſich bereit, an dem Tribut Theil zu nehmen und ſich ſelbſt ohne Loos hin¬ zugeben. Alles Volk bewunderte ſeinen Edelmuth und aufopfernden Bürgerſinn, auch blieb ſein Entſchluß, ob¬ gleich ſein Vater ihn mit den dringendſten Bitten be¬ ſtürmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn und Erben zu beſitzen, doch nicht ſobald wieder berauben ſolle, unerſchütterlich feſt. Seinen Vater aber beruhigte er durch die zuverſichtliche Verſicherung, daß er mit den herausgelosten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das Verderben gehe, ſondern den Minotaurus bezwingen werde. Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer nach Creta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslo¬ ſigkeit mit ſchwarzem Segel abgeſendet worden. Jetzt aber, als Aegeus ſeinen Sohn mit ſo kühnem Stolze ſprechen hörte, rüſtete er zwar das Schiff noch auf dieſelbe Weiſe aus: doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel von weißer Farbe mit, und befahl ihm, wenn Theſeus gerettet zurückkehre, dieſes auszuſpannen: wo nicht, mit dem ſchwarzen zurückzukehren, und ſo das Unglück zum Voraus anzukündigen. Als nun das Loos gezogen war, führte der junge Theſeus die Knaben und Mädchen, die es getroffen hatte, zuerſt in den Tempel des Apollo, und brachte dem Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwunde¬ nen Oelzweig, das Weihgeſchenk der Schutzſtehenden, dar. Nachdem er das feierliche Gebet geſprochen, ging er von allem Volke begleitet mit den auserleſenen Jüng¬ lingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und beſtieg das Trauerſchiff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/313
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/313>, abgerufen am 18.05.2024.