saß sie Tage lang, den Blick auf das Meer gerichtet. Als endlich Theseus eine Reise nach Trözen machte, seine dortigen Verwandten und den Sohn zu besuchen, beglei¬ tete ihn seine Gemahlin dorthin und verweilte geraume Zeit daselbst. Auch hier kämpfte sie noch lange mit dem unlautern Feuer in ihrer Brust, suchte die Einsamkeit und verweinte ihr Elend unter einem Myrthenbaume. End¬ lich aber vertraute sie sich ihrer alten Amme, einem ver¬ schmitzten und ihrer Gebieterin in blinder und thörichter Liebe ergebenen Weibe, an, die es bald über sich nahm, den Jüngling von der strafbaren Leidenschaft seiner Stiefmutter zu unterrichten. Aber der unschuldige Hippo¬ lytus hörte ihren Bericht mit Abscheu an, und sein Ent¬ setzen stieg, als ihm die pflichtvergessene Stiefmutter so¬ gar den Antrag machen ließ, den eigenen Vater vom Throne zu stoßen und mit der Ehebrecherin Zepter und Herrschaft zu theilen. In seinem Abscheu fluchte er allen Weibern und meinte schon durch das bloße Anhören eines so schändlichen Vorschlags entweiht zu seyn. Und weil Theseus gerade abwesend von Trözen war -- denn diesen Zeitpunkt hatte das treulose Weib erspäht -- so erklärte Hippolytus auch keinen Augenblick mit Phädra unter Einem Dache verweilen zu wollen, sondern machte sich, nachdem er die Amme nach Gebühr abgefertigt, ins Freie, um im Dienste seiner geliebten Herrin, der Göt¬ tin Diana, in den Wäldern zu jagen und so lange dem Königshause nicht wieder zu nahen, bis sein Vater zu¬ rückgekehrt seyn würde und er sein gepeinigtes Herz vor ihm ausschütten könnte.
Phädra vermochte die Abweisung ihrer verbrecheri¬ schen Anträge nicht zu überleben. Das Bewußtseyn ihres
ſaß ſie Tage lang, den Blick auf das Meer gerichtet. Als endlich Theſeus eine Reiſe nach Trözen machte, ſeine dortigen Verwandten und den Sohn zu beſuchen, beglei¬ tete ihn ſeine Gemahlin dorthin und verweilte geraume Zeit daſelbſt. Auch hier kämpfte ſie noch lange mit dem unlautern Feuer in ihrer Bruſt, ſuchte die Einſamkeit und verweinte ihr Elend unter einem Myrthenbaume. End¬ lich aber vertraute ſie ſich ihrer alten Amme, einem ver¬ ſchmitzten und ihrer Gebieterin in blinder und thörichter Liebe ergebenen Weibe, an, die es bald über ſich nahm, den Jüngling von der ſtrafbaren Leidenſchaft ſeiner Stiefmutter zu unterrichten. Aber der unſchuldige Hippo¬ lytus hörte ihren Bericht mit Abſcheu an, und ſein Ent¬ ſetzen ſtieg, als ihm die pflichtvergeſſene Stiefmutter ſo¬ gar den Antrag machen ließ, den eigenen Vater vom Throne zu ſtoßen und mit der Ehebrecherin Zepter und Herrſchaft zu theilen. In ſeinem Abſcheu fluchte er allen Weibern und meinte ſchon durch das bloße Anhören eines ſo ſchändlichen Vorſchlags entweiht zu ſeyn. Und weil Theſeus gerade abweſend von Trözen war — denn dieſen Zeitpunkt hatte das treuloſe Weib erſpäht — ſo erklärte Hippolytus auch keinen Augenblick mit Phädra unter Einem Dache verweilen zu wollen, ſondern machte ſich, nachdem er die Amme nach Gebühr abgefertigt, ins Freie, um im Dienſte ſeiner geliebten Herrin, der Göt¬ tin Diana, in den Wäldern zu jagen und ſo lange dem Königshauſe nicht wieder zu nahen, bis ſein Vater zu¬ rückgekehrt ſeyn würde und er ſein gepeinigtes Herz vor ihm ausſchütten könnte.
Phädra vermochte die Abweiſung ihrer verbrecheri¬ ſchen Anträge nicht zu überleben. Das Bewußtſeyn ihres
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ſaß ſie Tage lang, den Blick auf das Meer gerichtet.
Als endlich Theſeus eine Reiſe nach Trözen machte, ſeine
dortigen Verwandten und den Sohn zu beſuchen, beglei¬
tete ihn ſeine Gemahlin dorthin und verweilte geraume
Zeit daſelbſt. Auch hier kämpfte ſie noch lange mit dem
unlautern Feuer in ihrer Bruſt, ſuchte die Einſamkeit und
verweinte ihr Elend unter einem Myrthenbaume. End¬
lich aber vertraute ſie ſich ihrer alten Amme, einem ver¬
ſchmitzten und ihrer Gebieterin in blinder und thörichter
Liebe ergebenen Weibe, an, die es bald über ſich nahm,
den Jüngling von der ſtrafbaren Leidenſchaft ſeiner
Stiefmutter zu unterrichten. Aber der unſchuldige Hippo¬
lytus hörte ihren Bericht mit Abſcheu an, und ſein Ent¬
ſetzen ſtieg, als ihm die pflichtvergeſſene Stiefmutter ſo¬
gar den Antrag machen ließ, den eigenen Vater vom
Throne zu ſtoßen und mit der Ehebrecherin Zepter und
Herrſchaft zu theilen. In ſeinem Abſcheu fluchte er allen
Weibern und meinte ſchon durch das bloße Anhören
eines ſo ſchändlichen Vorſchlags entweiht zu ſeyn. Und
weil Theſeus gerade abweſend von Trözen war — denn
dieſen Zeitpunkt hatte das treuloſe Weib erſpäht — ſo
erklärte Hippolytus auch keinen Augenblick mit Phädra
unter Einem Dache verweilen zu wollen, ſondern machte
ſich, nachdem er die Amme nach Gebühr abgefertigt, ins
Freie, um im Dienſte ſeiner geliebten Herrin, der Göt¬
tin Diana, in den Wäldern zu jagen und ſo lange dem
Königshauſe nicht wieder zu nahen, bis ſein Vater zu¬
rückgekehrt ſeyn würde und er ſein gepeinigtes Herz vor
ihm ausſchütten könnte.
Phädra vermochte die Abweiſung ihrer verbrecheri¬
ſchen Anträge nicht zu überleben. Das Bewußtſeyn ihres
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/327>, abgerufen am 22.11.2024.
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