Noch am Abende desselben Tages suchte den König Theseus ein Eilbote auf und sprach, als er vor ihn ge¬ stellt war: "Herr und König, dein Sohn Hippolytus sieht das Tageslicht nicht mehr!" Theseus empfing diese Botschaft ganz kalt und sagte mit bitterem Lächeln: "hat ihn ein Feind erschlagen, dessen Weib er entehrt hat, wie er das Weib des Vaters entehren wollte?" -- "Nein, Herr!" erwiederte der Bote. "Sein eigener Wa¬ gen und der Fluch deines Mundes haben ihn umge¬ bracht!" -- "O Neptunus," sprach Theseus, die Hände dankend gen Himmel erhoben, "so hast du dich mir heute als ein rechter Vater bezeigt und meine Bitte erhört! Aber sprich, Bote, wie hat mein Sohn geendet, wie hat meinen Ehrenschänder die Keule der Vergeltung getrof¬ fen?" Der Bote fing an zu erzählen: Wir Diener striegelten am Meeresufer die Rosse unseres Herrn Hip¬ polytus, als die Botschaft von seiner Verbannung und bald er selbst kam, von einer Schaar wehklagender Ju¬ gendfreunde begleitet und uns Rosse und Wagen zur Abfahrt zu rüsten befahl. Als Alles bereit war, hub er die Hände gen Himmel und betete: "Jupiter, mögest du mich vertilgen, wenn ich ein schlechter Mann war! Und möge, sey ich nun todt oder lebendig, mein Vater erfah¬ ren, daß er mich ohne Fug entehrt!" Dann nahm, er den Rossestachel zur Hand, schwang sich auf den Wagen, er¬ griff die Zügel und fuhr von uns Dienern begleitet auf dem Wege nach Argos und Epidaurien davon. Wir waren so an's öde Meergestade gekommen, zu unserer Rechten die Fluth, zur Linken von den Hügeln vorsprin¬ gende Felsblöcke, als wir plötzlich ein tiefes Geräusch vernahmen, unterirdischem Donner ähnlich. Die Rosse
Noch am Abende deſſelben Tages ſuchte den König Theſeus ein Eilbote auf und ſprach, als er vor ihn ge¬ ſtellt war: „Herr und König, dein Sohn Hippolytus ſieht das Tageslicht nicht mehr!“ Theſeus empfing dieſe Botſchaft ganz kalt und ſagte mit bitterem Lächeln: „hat ihn ein Feind erſchlagen, deſſen Weib er entehrt hat, wie er das Weib des Vaters entehren wollte?“ — „Nein, Herr!“ erwiederte der Bote. „Sein eigener Wa¬ gen und der Fluch deines Mundes haben ihn umge¬ bracht!“ — „O Neptunus,“ ſprach Theſeus, die Hände dankend gen Himmel erhoben, „ſo haſt du dich mir heute als ein rechter Vater bezeigt und meine Bitte erhört! Aber ſprich, Bote, wie hat mein Sohn geendet, wie hat meinen Ehrenſchänder die Keule der Vergeltung getrof¬ fen?“ Der Bote fing an zu erzählen: Wir Diener ſtriegelten am Meeresufer die Roſſe unſeres Herrn Hip¬ polytus, als die Botſchaft von ſeiner Verbannung und bald er ſelbſt kam, von einer Schaar wehklagender Ju¬ gendfreunde begleitet und uns Roſſe und Wagen zur Abfahrt zu rüſten befahl. Als Alles bereit war, hub er die Hände gen Himmel und betete: „Jupiter, mögeſt du mich vertilgen, wenn ich ein ſchlechter Mann war! Und möge, ſey ich nun todt oder lebendig, mein Vater erfah¬ ren, daß er mich ohne Fug entehrt!“ Dann nahm, er den Roſſeſtachel zur Hand, ſchwang ſich auf den Wagen, er¬ griff die Zügel und fuhr von uns Dienern begleitet auf dem Wege nach Argos und Epidaurien davon. Wir waren ſo an's öde Meergeſtade gekommen, zu unſerer Rechten die Fluth, zur Linken von den Hügeln vorſprin¬ gende Felsblöcke, als wir plötzlich ein tiefes Geräuſch vernahmen, unterirdiſchem Donner ähnlich. Die Roſſe
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Noch am Abende deſſelben Tages ſuchte den König
Theſeus ein Eilbote auf und ſprach, als er vor ihn ge¬
ſtellt war: „Herr und König, dein Sohn Hippolytus
ſieht das Tageslicht nicht mehr!“ Theſeus empfing dieſe
Botſchaft ganz kalt und ſagte mit bitterem Lächeln:
„hat ihn ein Feind erſchlagen, deſſen Weib er entehrt
hat, wie er das Weib des Vaters entehren wollte?“ —
„Nein, Herr!“ erwiederte der Bote. „Sein eigener Wa¬
gen und der Fluch deines Mundes haben ihn umge¬
bracht!“ — „O Neptunus,“ ſprach Theſeus, die Hände
dankend gen Himmel erhoben, „ſo haſt du dich mir heute
als ein rechter Vater bezeigt und meine Bitte erhört!
Aber ſprich, Bote, wie hat mein Sohn geendet, wie hat
meinen Ehrenſchänder die Keule der Vergeltung getrof¬
fen?“ Der Bote fing an zu erzählen: Wir Diener
ſtriegelten am Meeresufer die Roſſe unſeres Herrn Hip¬
polytus, als die Botſchaft von ſeiner Verbannung und
bald er ſelbſt kam, von einer Schaar wehklagender Ju¬
gendfreunde begleitet und uns Roſſe und Wagen zur
Abfahrt zu rüſten befahl. Als Alles bereit war, hub er
die Hände gen Himmel und betete: „Jupiter, mögeſt du
mich vertilgen, wenn ich ein ſchlechter Mann war! Und
möge, ſey ich nun todt oder lebendig, mein Vater erfah¬
ren, daß er mich ohne Fug entehrt!“ Dann nahm, er den
Roſſeſtachel zur Hand, ſchwang ſich auf den Wagen, er¬
griff die Zügel und fuhr von uns Dienern begleitet auf
dem Wege nach Argos und Epidaurien davon. Wir
waren ſo an's öde Meergeſtade gekommen, zu unſerer
Rechten die Fluth, zur Linken von den Hügeln vorſprin¬
gende Felsblöcke, als wir plötzlich ein tiefes Geräuſch
vernahmen, unterirdiſchem Donner ähnlich. Die Roſſe
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/329>, abgerufen am 22.11.2024.
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