war verschwunden, wie vom Boden eingeschlungen. Wäh¬ rend nun die übrigen Diener athemlos die Spur des Wa¬ gens verfolgten, bin ich hierher geeilt, o König, das jammervolle Schicksal deines Sohnes dir zu verkünden!"
Theseus starrte auf diesen Bericht lange sprachlos zu Boden. "Ich freue mich nicht über sein Unglück; ich beklage es nicht," sprach er endlich nachsinnend und in Zweifel vertieft. "Könnte ich ihn doch lebend noch sehen, ihn befragen, mit ihm handeln über seine Schuld." Diese Rede wurde durch das Wehgeschrei einer alten Frau un¬ terbrochen, die mit grauem, fliegendem Haar und zerrisse¬ nem Gewande herbeieilend die Reihen der Dienerschaft trennte und dem Könige Theseus sich zu Füßen warf. Es war die greise Amme der Königin Phädra, die auf das Gerücht von Hippolytus jämmerlichem Untergange von ihrem Gewissen gefoltert, nicht länger schweigen konnte, und unter Thränen und Geschrei die Unschuld des Jünglings und die Schuld ihrer Gebieterin dem Kö¬ nig offenbarte. Ehe der unglückliche Vater recht zur Be¬ sinnung kommen konnte, wurde auf einer Tragbahre von wehklagenden Dienern sein Sohn Hippolytus, zerschmettert, aber noch athmend, in den Pallast und vor seine Augen getragen. Theseus warf sich reumüthig und verzweifelnd über den Sterbenden, der seine letzten Lebensgeister zu¬ sammenraffte und an die Umstehenden die Frage richtete: "Ist meine Unschuld erkannt?" Ein Wink der Nächstste¬ henden gab ihm diesen Trost: "Unglückseliger, getäusch¬ ter Vater", sprach der sterbende Jüngling, "ich vergebe dir!" und verschied.
Er wurde von Theseus unter denselben Myrthen¬ baum begraben, unter welchem einst Phädra mit ihrer
Schwab, das klass. Alterthum. I. 20
war verſchwunden, wie vom Boden eingeſchlungen. Wäh¬ rend nun die übrigen Diener athemlos die Spur des Wa¬ gens verfolgten, bin ich hierher geeilt, o König, das jammervolle Schickſal deines Sohnes dir zu verkünden!“
Theſeus ſtarrte auf dieſen Bericht lange ſprachlos zu Boden. „Ich freue mich nicht über ſein Unglück; ich beklage es nicht,“ ſprach er endlich nachſinnend und in Zweifel vertieft. „Könnte ich ihn doch lebend noch ſehen, ihn befragen, mit ihm handeln über ſeine Schuld.“ Dieſe Rede wurde durch das Wehgeſchrei einer alten Frau un¬ terbrochen, die mit grauem, fliegendem Haar und zerriſſe¬ nem Gewande herbeieilend die Reihen der Dienerſchaft trennte und dem Könige Theſeus ſich zu Füßen warf. Es war die greiſe Amme der Königin Phädra, die auf das Gerücht von Hippolytus jämmerlichem Untergange von ihrem Gewiſſen gefoltert, nicht länger ſchweigen konnte, und unter Thränen und Geſchrei die Unſchuld des Jünglings und die Schuld ihrer Gebieterin dem Kö¬ nig offenbarte. Ehe der unglückliche Vater recht zur Be¬ ſinnung kommen konnte, wurde auf einer Tragbahre von wehklagenden Dienern ſein Sohn Hippolytus, zerſchmettert, aber noch athmend, in den Pallaſt und vor ſeine Augen getragen. Theſeus warf ſich reumüthig und verzweifelnd über den Sterbenden, der ſeine letzten Lebensgeiſter zu¬ ſammenraffte und an die Umſtehenden die Frage richtete: „Iſt meine Unſchuld erkannt?“ Ein Wink der Nächſtſte¬ henden gab ihm dieſen Troſt: „Unglückſeliger, getäuſch¬ ter Vater“, ſprach der ſterbende Jüngling, „ich vergebe dir!“ und verſchied.
Er wurde von Theſeus unter denſelben Myrthen¬ baum begraben, unter welchem einſt Phädra mit ihrer
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 20
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0331"n="305"/>
war verſchwunden, wie vom Boden eingeſchlungen. Wäh¬<lb/>
rend nun die übrigen Diener athemlos die Spur des Wa¬<lb/>
gens verfolgten, bin ich hierher geeilt, o König, das<lb/>
jammervolle Schickſal deines Sohnes dir zu verkünden!“</p><lb/><p>Theſeus ſtarrte auf dieſen Bericht lange ſprachlos<lb/>
zu Boden. „Ich freue mich nicht über ſein Unglück; ich<lb/>
beklage es nicht,“ſprach er endlich nachſinnend und in<lb/>
Zweifel vertieft. „Könnte ich ihn doch lebend noch ſehen,<lb/>
ihn befragen, mit ihm handeln über ſeine Schuld.“ Dieſe<lb/>
Rede wurde durch das Wehgeſchrei einer alten Frau un¬<lb/>
terbrochen, die mit grauem, fliegendem Haar und zerriſſe¬<lb/>
nem Gewande herbeieilend die Reihen der Dienerſchaft<lb/>
trennte und dem Könige Theſeus ſich zu Füßen warf.<lb/>
Es war die greiſe Amme der Königin Phädra, die auf<lb/>
das Gerücht von Hippolytus jämmerlichem Untergange<lb/>
von ihrem Gewiſſen gefoltert, nicht länger ſchweigen<lb/>
konnte, und unter Thränen und Geſchrei die Unſchuld<lb/>
des Jünglings und die Schuld ihrer Gebieterin dem Kö¬<lb/>
nig offenbarte. Ehe der unglückliche Vater recht zur Be¬<lb/>ſinnung kommen konnte, wurde auf einer Tragbahre von<lb/>
wehklagenden Dienern ſein Sohn Hippolytus, zerſchmettert,<lb/>
aber noch athmend, in den Pallaſt und vor ſeine Augen<lb/>
getragen. Theſeus warf ſich reumüthig und verzweifelnd<lb/>
über den Sterbenden, der ſeine letzten Lebensgeiſter zu¬<lb/>ſammenraffte und an die Umſtehenden die Frage richtete:<lb/>„Iſt meine Unſchuld erkannt?“ Ein Wink der Nächſtſte¬<lb/>
henden gab ihm dieſen Troſt: „Unglückſeliger, getäuſch¬<lb/>
ter Vater“, ſprach der ſterbende Jüngling, „ich vergebe<lb/>
dir!“ und verſchied.</p><lb/><p>Er wurde von Theſeus unter denſelben Myrthen¬<lb/>
baum begraben, unter welchem einſt Phädra mit ihrer<lb/><fwtype="sig"place="bottom">Schwab, das klaſſ. Alterthum. <hirendition="#aq">I</hi>. 20<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[305/0331]
war verſchwunden, wie vom Boden eingeſchlungen. Wäh¬
rend nun die übrigen Diener athemlos die Spur des Wa¬
gens verfolgten, bin ich hierher geeilt, o König, das
jammervolle Schickſal deines Sohnes dir zu verkünden!“
Theſeus ſtarrte auf dieſen Bericht lange ſprachlos
zu Boden. „Ich freue mich nicht über ſein Unglück; ich
beklage es nicht,“ ſprach er endlich nachſinnend und in
Zweifel vertieft. „Könnte ich ihn doch lebend noch ſehen,
ihn befragen, mit ihm handeln über ſeine Schuld.“ Dieſe
Rede wurde durch das Wehgeſchrei einer alten Frau un¬
terbrochen, die mit grauem, fliegendem Haar und zerriſſe¬
nem Gewande herbeieilend die Reihen der Dienerſchaft
trennte und dem Könige Theſeus ſich zu Füßen warf.
Es war die greiſe Amme der Königin Phädra, die auf
das Gerücht von Hippolytus jämmerlichem Untergange
von ihrem Gewiſſen gefoltert, nicht länger ſchweigen
konnte, und unter Thränen und Geſchrei die Unſchuld
des Jünglings und die Schuld ihrer Gebieterin dem Kö¬
nig offenbarte. Ehe der unglückliche Vater recht zur Be¬
ſinnung kommen konnte, wurde auf einer Tragbahre von
wehklagenden Dienern ſein Sohn Hippolytus, zerſchmettert,
aber noch athmend, in den Pallaſt und vor ſeine Augen
getragen. Theſeus warf ſich reumüthig und verzweifelnd
über den Sterbenden, der ſeine letzten Lebensgeiſter zu¬
ſammenraffte und an die Umſtehenden die Frage richtete:
„Iſt meine Unſchuld erkannt?“ Ein Wink der Nächſtſte¬
henden gab ihm dieſen Troſt: „Unglückſeliger, getäuſch¬
ter Vater“, ſprach der ſterbende Jüngling, „ich vergebe
dir!“ und verſchied.
Er wurde von Theſeus unter denſelben Myrthen¬
baum begraben, unter welchem einſt Phädra mit ihrer
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 20
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/331>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.