zu, er sey seines Vaters ächter Sohn nicht. Von diesem Vorwurfe schwer betroffen, konnte der Jüngling das Ende des Mahles kaum erwarten; doch verschloß er seinen Zweifel selbigen Tag noch kämpfend in der Brust. Am andern Morgen aber trat er vor seine beiden Eltern, die freilich nur seine Pflegeältern waren, und verlangte von ihnen Auskunft. Polybus und seine Gattin waren über den Schmäher, dem diese Rede entfallen war, sehr auf¬ gebracht, und suchten ihrem Sohn seine Zweifel auszure¬ den, ohne ihm jedoch dieselben durch eine runde Antwort zu heben. Die Liebe, die er in ihrer Aeusserung erkannte, war diesem zwar sehr erquicklich; aber jenes Mißtrauen nagte doch seitdem an seinem Herzen, denn die Worte seines Feindes waren zu tief eingedrungen. Endlich griff er heimlich zum Wanderstabe, und ohne seinen Eltern ein Wort zu sagen, suchte er das Orakel zu Delphi auf, und hoffte von ihm eine Widerlegung der ehrenrührigen Beschuldigung zu vernehmen. Aber Phöbus Apollo wür¬ digte ihn dort keiner Antwort auf seine Frage, sondern deckte ihm nur ein neues, weit grauenvolleres Unglück, das ihm drohte, auf. "Du wirst," sprach das Orakel, "deines eigenen Vaters Leib ermorden, deine Mutter heirathen, und den Menschen eine Nachkommenschaft von verab¬ scheuungswürdiger Art zeigen." Als Oedipus dieses ver¬ nommen hatte, ergriff ihn unaussprechliche Angst, und da ihm sein Herz doch immer noch sagte, daß so liebe¬ volle Eltern, wie Polybus und Merope, seine rechten Eltern seyn müßten, so wagte er es nicht in seine Hei¬ math zurückzukehren, aus Furcht, er mochte, vom Verhäng¬ nisse getrieben, Hand an seinen geliebten Vater Polybus legen und, von den Göttern mit unwiderstehlichem Wahn¬
zu, er ſey ſeines Vaters ächter Sohn nicht. Von dieſem Vorwurfe ſchwer betroffen, konnte der Jüngling das Ende des Mahles kaum erwarten; doch verſchloß er ſeinen Zweifel ſelbigen Tag noch kämpfend in der Bruſt. Am andern Morgen aber trat er vor ſeine beiden Eltern, die freilich nur ſeine Pflegeältern waren, und verlangte von ihnen Auskunft. Polybus und ſeine Gattin waren über den Schmäher, dem dieſe Rede entfallen war, ſehr auf¬ gebracht, und ſuchten ihrem Sohn ſeine Zweifel auszure¬ den, ohne ihm jedoch dieſelben durch eine runde Antwort zu heben. Die Liebe, die er in ihrer Aeuſſerung erkannte, war dieſem zwar ſehr erquicklich; aber jenes Mißtrauen nagte doch ſeitdem an ſeinem Herzen, denn die Worte ſeines Feindes waren zu tief eingedrungen. Endlich griff er heimlich zum Wanderſtabe, und ohne ſeinen Eltern ein Wort zu ſagen, ſuchte er das Orakel zu Delphi auf, und hoffte von ihm eine Widerlegung der ehrenrührigen Beſchuldigung zu vernehmen. Aber Phöbus Apollo wür¬ digte ihn dort keiner Antwort auf ſeine Frage, ſondern deckte ihm nur ein neues, weit grauenvolleres Unglück, das ihm drohte, auf. „Du wirſt,“ ſprach das Orakel, „deines eigenen Vaters Leib ermorden, deine Mutter heirathen, und den Menſchen eine Nachkommenſchaft von verab¬ ſcheuungswürdiger Art zeigen.“ Als Oedipus dieſes ver¬ nommen hatte, ergriff ihn unausſprechliche Angſt, und da ihm ſein Herz doch immer noch ſagte, daß ſo liebe¬ volle Eltern, wie Polybus und Merope, ſeine rechten Eltern ſeyn müßten, ſo wagte er es nicht in ſeine Hei¬ math zurückzukehren, aus Furcht, er mochte, vom Verhäng¬ niſſe getrieben, Hand an ſeinen geliebten Vater Polybus legen und, von den Göttern mit unwiderſtehlichem Wahn¬
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zu, er ſey ſeines Vaters ächter Sohn nicht. Von dieſem
Vorwurfe ſchwer betroffen, konnte der Jüngling das Ende
des Mahles kaum erwarten; doch verſchloß er ſeinen
Zweifel ſelbigen Tag noch kämpfend in der Bruſt. Am
andern Morgen aber trat er vor ſeine beiden Eltern, die
freilich nur ſeine Pflegeältern waren, und verlangte von
ihnen Auskunft. Polybus und ſeine Gattin waren über
den Schmäher, dem dieſe Rede entfallen war, ſehr auf¬
gebracht, und ſuchten ihrem Sohn ſeine Zweifel auszure¬
den, ohne ihm jedoch dieſelben durch eine runde Antwort
zu heben. Die Liebe, die er in ihrer Aeuſſerung erkannte,
war dieſem zwar ſehr erquicklich; aber jenes Mißtrauen
nagte doch ſeitdem an ſeinem Herzen, denn die Worte
ſeines Feindes waren zu tief eingedrungen. Endlich griff
er heimlich zum Wanderſtabe, und ohne ſeinen Eltern
ein Wort zu ſagen, ſuchte er das Orakel zu Delphi auf,
und hoffte von ihm eine Widerlegung der ehrenrührigen
Beſchuldigung zu vernehmen. Aber Phöbus Apollo wür¬
digte ihn dort keiner Antwort auf ſeine Frage, ſondern
deckte ihm nur ein neues, weit grauenvolleres Unglück, das
ihm drohte, auf. „Du wirſt,“ ſprach das Orakel, „deines
eigenen Vaters Leib ermorden, deine Mutter heirathen,
und den Menſchen eine Nachkommenſchaft von verab¬
ſcheuungswürdiger Art zeigen.“ Als Oedipus dieſes ver¬
nommen hatte, ergriff ihn unausſprechliche Angſt, und
da ihm ſein Herz doch immer noch ſagte, daß ſo liebe¬
volle Eltern, wie Polybus und Merope, ſeine rechten
Eltern ſeyn müßten, ſo wagte er es nicht in ſeine Hei¬
math zurückzukehren, aus Furcht, er mochte, vom Verhäng¬
niſſe getrieben, Hand an ſeinen geliebten Vater Polybus
legen und, von den Göttern mit unwiderſtehlichem Wahn¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/340>, abgerufen am 22.11.2024.
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