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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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gen des Verderbens ihr Haupt emporzutauchen. In dieser
Noth nehmen wir unsere Zuflucht zu dir, geliebter Herr¬
scher. Du hast uns schon einmal von dem tödtlichen
Zins erlöst, mit welchem uns die grimmige Räthselsän¬
gerin zehntete. Gewiß ist dieß nicht ohne Götterhülfe
geschehen. Und darum vertrauen wir auf dich, daß du,
sey es bei Göttern oder Menschen, uns auch dießmal
Hülfe finden werdest." -- "Arme Kinder," erwiederte
Oedipus, "wohl ist mir die Ursache eures Flehens bekannt.
Ich weiß, daß ihr kranket, aber niemand krankt im Her¬
zen so, wie ich. Denn mein Gemüth beseufzt nicht nur
Einzelne, sondern die ganze Stadt! Darum erwecket ihr
mich nicht wie einen Entschlummerten aus dem Schlafe;
sondern hin und her habe ich im Geiste nach Rettungs¬
mitteln geforscht, und endlich glaube ich Eines gefunden
zu haben. Denn mein eigener Schwager Kreon ist von
mir zum pythischen Apollo nach Delphi abgesandt wor¬
den, daß er frage, welch' Werk, oder welche That die
Stadt befreien kann."

Noch sprach der König, als auch Kreon schon unter
die Menge trat und den Bescheid des Orakels dem Kö¬
nige vor den Ohren des Volkes mittheilte. Dieser lautete
freilich nicht tröstlich: "der Gott befahl, einen Frevel, den
das Land beherberge, hinauszujagen, und nicht das zu
pflegen, was keine Säuberung zu sühnen vermöge. Denn
der Mord des Königes Laius laste als eine schwere
Blutschuld auf dem Lande." Oedipus, ganz ohne Ahnung,
daß jener von ihm erschlagene Greis derselbe sey, um
dessenwillen der Zorn der Götter sein Volk heimsuche,
ließ sich die Ermordung des Königs erzählen, und noch
immer blieb sein Geist mit Blindheit geschlagen. Er er¬

gen des Verderbens ihr Haupt emporzutauchen. In dieſer
Noth nehmen wir unſere Zuflucht zu dir, geliebter Herr¬
ſcher. Du haſt uns ſchon einmal von dem tödtlichen
Zins erlöſt, mit welchem uns die grimmige Räthſelſän¬
gerin zehntete. Gewiß iſt dieß nicht ohne Götterhülfe
geſchehen. Und darum vertrauen wir auf dich, daß du,
ſey es bei Göttern oder Menſchen, uns auch dießmal
Hülfe finden werdeſt.“ — „Arme Kinder,“ erwiederte
Oedipus, „wohl iſt mir die Urſache eures Flehens bekannt.
Ich weiß, daß ihr kranket, aber niemand krankt im Her¬
zen ſo, wie ich. Denn mein Gemüth beſeufzt nicht nur
Einzelne, ſondern die ganze Stadt! Darum erwecket ihr
mich nicht wie einen Entſchlummerten aus dem Schlafe;
ſondern hin und her habe ich im Geiſte nach Rettungs¬
mitteln geforſcht, und endlich glaube ich Eines gefunden
zu haben. Denn mein eigener Schwager Kreon iſt von
mir zum pythiſchen Apollo nach Delphi abgeſandt wor¬
den, daß er frage, welch' Werk, oder welche That die
Stadt befreien kann.“

Noch ſprach der König, als auch Kreon ſchon unter
die Menge trat und den Beſcheid des Orakels dem Kö¬
nige vor den Ohren des Volkes mittheilte. Dieſer lautete
freilich nicht tröſtlich: „der Gott befahl, einen Frevel, den
das Land beherberge, hinauszujagen, und nicht das zu
pflegen, was keine Säuberung zu ſühnen vermöge. Denn
der Mord des Königes Laïus laſte als eine ſchwere
Blutſchuld auf dem Lande.“ Oedipus, ganz ohne Ahnung,
daß jener von ihm erſchlagene Greis derſelbe ſey, um
deſſenwillen der Zorn der Götter ſein Volk heimſuche,
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immer blieb ſein Geiſt mit Blindheit geſchlagen. Er er¬

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[319/0345] gen des Verderbens ihr Haupt emporzutauchen. In dieſer Noth nehmen wir unſere Zuflucht zu dir, geliebter Herr¬ ſcher. Du haſt uns ſchon einmal von dem tödtlichen Zins erlöſt, mit welchem uns die grimmige Räthſelſän¬ gerin zehntete. Gewiß iſt dieß nicht ohne Götterhülfe geſchehen. Und darum vertrauen wir auf dich, daß du, ſey es bei Göttern oder Menſchen, uns auch dießmal Hülfe finden werdeſt.“ — „Arme Kinder,“ erwiederte Oedipus, „wohl iſt mir die Urſache eures Flehens bekannt. Ich weiß, daß ihr kranket, aber niemand krankt im Her¬ zen ſo, wie ich. Denn mein Gemüth beſeufzt nicht nur Einzelne, ſondern die ganze Stadt! Darum erwecket ihr mich nicht wie einen Entſchlummerten aus dem Schlafe; ſondern hin und her habe ich im Geiſte nach Rettungs¬ mitteln geforſcht, und endlich glaube ich Eines gefunden zu haben. Denn mein eigener Schwager Kreon iſt von mir zum pythiſchen Apollo nach Delphi abgeſandt wor¬ den, daß er frage, welch' Werk, oder welche That die Stadt befreien kann.“ Noch ſprach der König, als auch Kreon ſchon unter die Menge trat und den Beſcheid des Orakels dem Kö¬ nige vor den Ohren des Volkes mittheilte. Dieſer lautete freilich nicht tröſtlich: „der Gott befahl, einen Frevel, den das Land beherberge, hinauszujagen, und nicht das zu pflegen, was keine Säuberung zu ſühnen vermöge. Denn der Mord des Königes Laïus laſte als eine ſchwere Blutſchuld auf dem Lande.“ Oedipus, ganz ohne Ahnung, daß jener von ihm erſchlagene Greis derſelbe ſey, um deſſenwillen der Zorn der Götter ſein Volk heimſuche, ließ ſich die Ermordung des Königs erzählen, und noch immer blieb ſein Geiſt mit Blindheit geſchlagen. Er er¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/345>, abgerufen am 22.11.2024.