und Seherweisheit ausbrach. "Sieh nur, Gemahl," rief sie, "wie wenig die Seher wissen; sieh es an einem Bei¬ spiel! Mein erster Gatte Laius hatte auch einst ein Orakel erhalten, daß er durch Sohneshand sterben werde. Nun erschlug aber jenen eine Räuberschaar am Kreuzweg, und unser einziger Sohn wurde, an den Füßen gebunden, in's öde Gebirge geworfen und nicht über drei Tage alt. So erfüllen sich die Sprüche der Seher!" Diese Worte, die die Königin mit Hohnlachen sprach, machten auf Oedipus einen ganz andern Eindruck, als sie erwartet hatte. "Am Kreuzweg," fragte er in höchster Gemüths¬ angst, "ist Laius gefallen? O sprich, wie war seine Ge¬ stalt, sein Alter?" -- "Er war groß," antwortete Jokaste, ohne die Aufregung ihres Gatten zu begreifen, "die ersten Greisenlocken schmückten sein Haupt; er war dir selbst, mein Gemahl, von Gestalt und Ansehen gar nicht unähn¬ lich." -- "Tiresias ist nicht blind, Tiresias ist sehend!" rief entsetzenvoll Oedipus, dem die Nacht seines Geistes auf einmal, wie durch einen Blitzstrahl, erleuchtet ward. Doch trieb ihn das Gräßliche selber, weiter danach zu forschen, als müßten auf seine Fragen Antworten kom¬ men, welche die schreckliche Entdeckung auf einmal als Irrthum darstellten. Aber alle Umstände trafen zusam¬ men, und zuletzt erfuhr er, daß ein entronnener Diener den ganzen Mord gemeldet habe. Dieser Knecht aber habe, sowie er den Oedipus auf dem Throne sah, flehent¬ lich gebeten, ihn soweit als möglich von der Stadt weg auf die Waiden des Königes zu schicken. Oedipus be¬ gehrte ihn zu sehen und der Sklave wurde vom Lande hereinbeschieden. Ehe er jedoch noch ankam, erschien ein Bote aus Korinth, meldete dem Oedipus den Tod
und Seherweisheit ausbrach. „Sieh nur, Gemahl,“ rief ſie, „wie wenig die Seher wiſſen; ſieh es an einem Bei¬ ſpiel! Mein erſter Gatte Laïus hatte auch einſt ein Orakel erhalten, daß er durch Sohneshand ſterben werde. Nun erſchlug aber jenen eine Räuberſchaar am Kreuzweg, und unſer einziger Sohn wurde, an den Füßen gebunden, in's öde Gebirge geworfen und nicht über drei Tage alt. So erfüllen ſich die Sprüche der Seher!“ Dieſe Worte, die die Königin mit Hohnlachen ſprach, machten auf Oedipus einen ganz andern Eindruck, als ſie erwartet hatte. „Am Kreuzweg,“ fragte er in höchſter Gemüths¬ angſt, „iſt Laïus gefallen? O ſprich, wie war ſeine Ge¬ ſtalt, ſein Alter?“ — „Er war groß,“ antwortete Jokaſte, ohne die Aufregung ihres Gatten zu begreifen, „die erſten Greiſenlocken ſchmückten ſein Haupt; er war dir ſelbſt, mein Gemahl, von Geſtalt und Anſehen gar nicht unähn¬ lich.“ — „Tireſias iſt nicht blind, Tireſias iſt ſehend!“ rief entſetzenvoll Oedipus, dem die Nacht ſeines Geiſtes auf einmal, wie durch einen Blitzſtrahl, erleuchtet ward. Doch trieb ihn das Gräßliche ſelber, weiter danach zu forſchen, als müßten auf ſeine Fragen Antworten kom¬ men, welche die ſchreckliche Entdeckung auf einmal als Irrthum darſtellten. Aber alle Umſtände trafen zuſam¬ men, und zuletzt erfuhr er, daß ein entronnener Diener den ganzen Mord gemeldet habe. Dieſer Knecht aber habe, ſowie er den Oedipus auf dem Throne ſah, flehent¬ lich gebeten, ihn ſoweit als möglich von der Stadt weg auf die Waiden des Königes zu ſchicken. Oedipus be¬ gehrte ihn zu ſehen und der Sklave wurde vom Lande hereinbeſchieden. Ehe er jedoch noch ankam, erſchien ein Bote aus Korinth, meldete dem Oedipus den Tod
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und Seherweisheit ausbrach. „Sieh nur, Gemahl,“ rief
ſie, „wie wenig die Seher wiſſen; ſieh es an einem Bei¬
ſpiel! Mein erſter Gatte Laïus hatte auch einſt ein Orakel
erhalten, daß er durch Sohneshand ſterben werde. Nun
erſchlug aber jenen eine Räuberſchaar am Kreuzweg, und
unſer einziger Sohn wurde, an den Füßen gebunden,
in's öde Gebirge geworfen und nicht über drei Tage alt.
So erfüllen ſich die Sprüche der Seher!“ Dieſe Worte,
die die Königin mit Hohnlachen ſprach, machten auf
Oedipus einen ganz andern Eindruck, als ſie erwartet
hatte. „Am Kreuzweg,“ fragte er in höchſter Gemüths¬
angſt, „iſt Laïus gefallen? O ſprich, wie war ſeine Ge¬
ſtalt, ſein Alter?“ — „Er war groß,“ antwortete Jokaſte,
ohne die Aufregung ihres Gatten zu begreifen, „die erſten
Greiſenlocken ſchmückten ſein Haupt; er war dir ſelbſt,
mein Gemahl, von Geſtalt und Anſehen gar nicht unähn¬
lich.“ — „Tireſias iſt nicht blind, Tireſias iſt ſehend!“
rief entſetzenvoll Oedipus, dem die Nacht ſeines Geiſtes
auf einmal, wie durch einen Blitzſtrahl, erleuchtet ward.
Doch trieb ihn das Gräßliche ſelber, weiter danach zu
forſchen, als müßten auf ſeine Fragen Antworten kom¬
men, welche die ſchreckliche Entdeckung auf einmal als
Irrthum darſtellten. Aber alle Umſtände trafen zuſam¬
men, und zuletzt erfuhr er, daß ein entronnener Diener
den ganzen Mord gemeldet habe. Dieſer Knecht aber
habe, ſowie er den Oedipus auf dem Throne ſah, flehent¬
lich gebeten, ihn ſoweit als möglich von der Stadt weg
auf die Waiden des Königes zu ſchicken. Oedipus be¬
gehrte ihn zu ſehen und der Sklave wurde vom Lande
hereinbeſchieden. Ehe er jedoch noch ankam, erſchien
ein Bote aus Korinth, meldete dem Oedipus den Tod
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/348>, abgerufen am 22.11.2024.
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