die gute Schwester, "dein Sohn Polynices steht vor dir." Polynices warf sich vor dem Vater nieder und umschlang seine Knie. An ihm hinaufblickend betrachtete er jam¬ mernd seine Bettlerkleidung, seine hohlen Augen, sein ungekämmt in der Luft flatterndes Greisenhaar. "Ach, zu spät erfahre ich alles dieses," rief er, "ja ich selbst muß es bezeugen, ich habe meines Vaters vergessen! Was wäre er ohne die Fürsorge meiner Schwester! Ich habe mich schwer an dir versündigt, Vater! Kannst du mir nicht vergeben? Du schweigst? Sprich doch etwas, Vater! Zürne nicht so unerbittlich hinweggewandt! O ihr lieben Schwestern, versucht ihr es, den abge¬ kehrten Mund meines Erzeugers zu rühren!" -- "Sage du selbst zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat," sprach die milde Antigone, "vielleicht öffnet deine Rede auch seine Lippen!" Polynices erzählte nun seine Verjagung durch den Bruder, seine Aufnahme beim König Adrastus in Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie er dort sieben Fürsten mit siebenfacher Schaar für seine gerechte Sache geworben habe, und diese Bundesgenossen das thebanische Gebiet bereits umringt hätten. Dann bat er den Vater unter Thränen, sich mit ihm aufzuma¬ chen, und nachdem durch seine Hülfe der übermüthige Bruder gestürzt sey, die Krone von Theben aus Sohnes Händen zum zweitenmal zu empfahen. Doch die Reue des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten Vaters nicht zu erweichen. "Du Verruchter!" sprach er und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf, "als Thron und Scepter noch in deinem Besitze war, hast du den Vater selbst aus der Heimath verstoßen, und in dieses Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm be¬
die gute Schweſter, „dein Sohn Polynices ſteht vor dir.“ Polynices warf ſich vor dem Vater nieder und umſchlang ſeine Knie. An ihm hinaufblickend betrachtete er jam¬ mernd ſeine Bettlerkleidung, ſeine hohlen Augen, ſein ungekämmt in der Luft flatterndes Greiſenhaar. „Ach, zu ſpät erfahre ich alles dieſes,“ rief er, „ja ich ſelbſt muß es bezeugen, ich habe meines Vaters vergeſſen! Was wäre er ohne die Fürſorge meiner Schweſter! Ich habe mich ſchwer an dir verſündigt, Vater! Kannſt du mir nicht vergeben? Du ſchweigſt? Sprich doch etwas, Vater! Zürne nicht ſo unerbittlich hinweggewandt! O ihr lieben Schweſtern, verſucht ihr es, den abge¬ kehrten Mund meines Erzeugers zu rühren!“ — „Sage du ſelbſt zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat,“ ſprach die milde Antigone, „vielleicht öffnet deine Rede auch ſeine Lippen!“ Polynices erzählte nun ſeine Verjagung durch den Bruder, ſeine Aufnahme beim König Adraſtus in Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie er dort ſieben Fürſten mit ſiebenfacher Schaar für ſeine gerechte Sache geworben habe, und dieſe Bundesgenoſſen das thebaniſche Gebiet bereits umringt hätten. Dann bat er den Vater unter Thränen, ſich mit ihm aufzuma¬ chen, und nachdem durch ſeine Hülfe der übermüthige Bruder geſtürzt ſey, die Krone von Theben aus Sohnes Händen zum zweitenmal zu empfahen. Doch die Reue des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten Vaters nicht zu erweichen. „Du Verruchter!“ ſprach er und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf, „als Thron und Scepter noch in deinem Beſitze war, haſt du den Vater ſelbſt aus der Heimath verſtoßen, und in dieſes Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm be¬
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die gute Schweſter, „dein Sohn Polynices ſteht vor dir.“
Polynices warf ſich vor dem Vater nieder und umſchlang
ſeine Knie. An ihm hinaufblickend betrachtete er jam¬
mernd ſeine Bettlerkleidung, ſeine hohlen Augen, ſein
ungekämmt in der Luft flatterndes Greiſenhaar. „Ach,
zu ſpät erfahre ich alles dieſes,“ rief er, „ja ich ſelbſt
muß es bezeugen, ich habe meines Vaters vergeſſen!
Was wäre er ohne die Fürſorge meiner Schweſter! Ich
habe mich ſchwer an dir verſündigt, Vater! Kannſt du
mir nicht vergeben? Du ſchweigſt? Sprich doch etwas,
Vater! Zürne nicht ſo unerbittlich hinweggewandt! O
ihr lieben Schweſtern, verſucht ihr es, den abge¬
kehrten Mund meines Erzeugers zu rühren!“ — „Sage
du ſelbſt zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat,“ ſprach
die milde Antigone, „vielleicht öffnet deine Rede auch ſeine
Lippen!“ Polynices erzählte nun ſeine Verjagung durch
den Bruder, ſeine Aufnahme beim König Adraſtus in
Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie
er dort ſieben Fürſten mit ſiebenfacher Schaar für ſeine
gerechte Sache geworben habe, und dieſe Bundesgenoſſen
das thebaniſche Gebiet bereits umringt hätten. Dann
bat er den Vater unter Thränen, ſich mit ihm aufzuma¬
chen, und nachdem durch ſeine Hülfe der übermüthige
Bruder geſtürzt ſey, die Krone von Theben aus Sohnes
Händen zum zweitenmal zu empfahen. Doch die Reue
des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten
Vaters nicht zu erweichen. „Du Verruchter!“ ſprach er
und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf,
„als Thron und Scepter noch in deinem Beſitze war,
haſt du den Vater ſelbſt aus der Heimath verſtoßen, und
in dieſes Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm be¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/364>, abgerufen am 24.11.2024.
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