thäte, sollte unerbittlich der Tod seyn; in offener Stadt sollte er gesteinigt werden.
Diese grausame Verkündigung hatte auch Antigone, die fromme Schwester, mit angehört und war ihres Ver¬ sprechens, das sie dem Sterbenden gegeben, wohl eingedenk. Sie wandte sich mit beschwertem Herzen an ihre jüngere Schwester Ismene, und wollte diese bereden, mit ihr gemein¬ schaftlich das Wagestück zu unternehmen, mit Hand an¬ zulegen und den Leib des Bruders seinen Feinden zu ent¬ reißen. Aber Ismene war ein schwaches Mädchen und solchem Heldenmuthe nicht gewachsen. "Hast du denn, Schwester," sagte sie weinend, "den grauenhaften Un¬ tergang unseres Vaters und unsrer Mutter schon so ganz vergessen, ja ist dir das frische Verderben unsrer Brüder schon aus dem Gedächtnisse verschwunden, daß du auch uns Zurückgebliebene noch ins gleiche Todesloos hinein¬ ziehen willst?" Antigone wandte sich mit Kälte von ihrer furchtsamen Schwester ab. "Ich will dich gar nicht zur Helferin", sagte sie. "Ich gehe hin, den Bruder al¬ lein zu begraben. Wenn ich dieß gethan habe, sterbe ich mit Freuden und lege mich nieder neben dem, den ich im Leben geliebt habe!"
Bald darauf kam einer der Wächter muthlos und zögernden Schrittes vor den König Kreon: "der Leich¬ nam, den du uns zu bewahren gegeben, ist begraben," rief er dem Herrscher entgegen, "und der unbekannte Thäter ist uns entkommen. Wir wissen auch nicht, wie es geschehen ist. Als der erste Tageswächter uns die That anzeigte, war es uns Allen ein Bekümmerniß. Nur ein dünner Staub lag auf dem Todten: so viel als nothwendig ist, wenn ein Begräbniß vor den Göttern
Schwab, das klass. Alterthum. I. 24
thäte, ſollte unerbittlich der Tod ſeyn; in offener Stadt ſollte er geſteinigt werden.
Dieſe grauſame Verkündigung hatte auch Antigone, die fromme Schweſter, mit angehört und war ihres Ver¬ ſprechens, das ſie dem Sterbenden gegeben, wohl eingedenk. Sie wandte ſich mit beſchwertem Herzen an ihre jüngere Schweſter Iſmene, und wollte dieſe bereden, mit ihr gemein¬ ſchaftlich das Wageſtück zu unternehmen, mit Hand an¬ zulegen und den Leib des Bruders ſeinen Feinden zu ent¬ reißen. Aber Iſmene war ein ſchwaches Mädchen und ſolchem Heldenmuthe nicht gewachſen. „Haſt du denn, Schweſter,“ ſagte ſie weinend, „den grauenhaften Un¬ tergang unſeres Vaters und unſrer Mutter ſchon ſo ganz vergeſſen, ja iſt dir das friſche Verderben unſrer Brüder ſchon aus dem Gedächtniſſe verſchwunden, daß du auch uns Zurückgebliebene noch ins gleiche Todesloos hinein¬ ziehen willſt?“ Antigone wandte ſich mit Kälte von ihrer furchtſamen Schweſter ab. „Ich will dich gar nicht zur Helferin“, ſagte ſie. „Ich gehe hin, den Bruder al¬ lein zu begraben. Wenn ich dieß gethan habe, ſterbe ich mit Freuden und lege mich nieder neben dem, den ich im Leben geliebt habe!“
Bald darauf kam einer der Wächter muthlos und zögernden Schrittes vor den König Kreon: „der Leich¬ nam, den du uns zu bewahren gegeben, iſt begraben,“ rief er dem Herrſcher entgegen, „und der unbekannte Thäter iſt uns entkommen. Wir wiſſen auch nicht, wie es geſchehen iſt. Als der erſte Tageswächter uns die That anzeigte, war es uns Allen ein Bekümmerniß. Nur ein dünner Staub lag auf dem Todten: ſo viel als nothwendig iſt, wenn ein Begräbniß vor den Göttern
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 24
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thäte, ſollte unerbittlich der Tod ſeyn; in offener Stadt
ſollte er geſteinigt werden.
Dieſe grauſame Verkündigung hatte auch Antigone,
die fromme Schweſter, mit angehört und war ihres Ver¬
ſprechens, das ſie dem Sterbenden gegeben, wohl eingedenk.
Sie wandte ſich mit beſchwertem Herzen an ihre jüngere
Schweſter Iſmene, und wollte dieſe bereden, mit ihr gemein¬
ſchaftlich das Wageſtück zu unternehmen, mit Hand an¬
zulegen und den Leib des Bruders ſeinen Feinden zu ent¬
reißen. Aber Iſmene war ein ſchwaches Mädchen und
ſolchem Heldenmuthe nicht gewachſen. „Haſt du denn,
Schweſter,“ ſagte ſie weinend, „den grauenhaften Un¬
tergang unſeres Vaters und unſrer Mutter ſchon ſo ganz
vergeſſen, ja iſt dir das friſche Verderben unſrer Brüder
ſchon aus dem Gedächtniſſe verſchwunden, daß du auch
uns Zurückgebliebene noch ins gleiche Todesloos hinein¬
ziehen willſt?“ Antigone wandte ſich mit Kälte von
ihrer furchtſamen Schweſter ab. „Ich will dich gar nicht
zur Helferin“, ſagte ſie. „Ich gehe hin, den Bruder al¬
lein zu begraben. Wenn ich dieß gethan habe, ſterbe ich
mit Freuden und lege mich nieder neben dem, den ich
im Leben geliebt habe!“
Bald darauf kam einer der Wächter muthlos und
zögernden Schrittes vor den König Kreon: „der Leich¬
nam, den du uns zu bewahren gegeben, iſt begraben,“
rief er dem Herrſcher entgegen, „und der unbekannte
Thäter iſt uns entkommen. Wir wiſſen auch nicht, wie
es geſchehen iſt. Als der erſte Tageswächter uns die
That anzeigte, war es uns Allen ein Bekümmerniß.
Nur ein dünner Staub lag auf dem Todten: ſo viel
als nothwendig iſt, wenn ein Begräbniß vor den Göttern
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 24
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/395>, abgerufen am 23.11.2024.
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