mögen: eine reine Jungfrau aus edlem Stamme sollet ihr schlachten. Habt ihr denn gar nicht daran gedacht, daß die jungfräuliche Tochter des adligsten Sterblichen, des Herkules, in ihrer Mitte weilt? Ja, ich selbst biete mich als Opfer an, das den Göttern um so will¬ kommener seyn muß, da es freiwillig ist. Wenn diese Stadt edelmüthig genug für Herkules' Nachkommen einen ge¬ fahrvollen Krieg unternimmt und ihre Söhne zu Hun¬ derten opfern wird: wie sollte sich unter seiner Nachkom¬ menschaft nicht auch ein Leben finden, das bereit ist, so trefflichen Männern durch seine Opferung den Sieg zu sichern? Wir wären nicht werth beschirmt und gerettet zu werden, wenn keines unter uns so dächte! Darum führt mich immerhin an den Ort, wo mein Leib geopfert werden soll, bekränzet mich, wie man ein Opferthier bekränzt, zücket den Stahl, meine Seele wird willig ent¬ fliehen!" -- Jolaus und alle Umstehende schwiegen lange, nachdem das heldenmüthige Mädchen ihre feu¬ rige Anrede längst geendet hatte. Endlich sprach der Führer der Herakliden: "Jungfrau, du hast deines Vaters würdig gesprochen: ich schäme mich deiner Worte nicht, obwohl ich dein Geschick beweine. Mir aber däuchte billig, daß alle Töchter deines Stammes zusammenkämen, und das Loos entschiede, welche für ihre Brüder sterben soll!" -- "Ich möchte nicht durch das Loos sterben," antwortete Makaria freudig, "aber zögert nicht lange, daß nicht der Feind euch überfalle und der Orakelspruch vergebens euch verliehen sey. Heißet die Frauen des Landes mit mir gehen, daß ich nicht vor Männeraugen sterbe." So ging die hochgesinnte Jungfrau, von den edelsten Frauen Athens begleitet, freiwilligem Tode entgegen.
mögen: eine reine Jungfrau aus edlem Stamme ſollet ihr ſchlachten. Habt ihr denn gar nicht daran gedacht, daß die jungfräuliche Tochter des adligſten Sterblichen, des Herkules, in ihrer Mitte weilt? Ja, ich ſelbſt biete mich als Opfer an, das den Göttern um ſo will¬ kommener ſeyn muß, da es freiwillig iſt. Wenn dieſe Stadt edelmüthig genug für Herkules' Nachkommen einen ge¬ fahrvollen Krieg unternimmt und ihre Söhne zu Hun¬ derten opfern wird: wie ſollte ſich unter ſeiner Nachkom¬ menſchaft nicht auch ein Leben finden, das bereit iſt, ſo trefflichen Männern durch ſeine Opferung den Sieg zu ſichern? Wir wären nicht werth beſchirmt und gerettet zu werden, wenn keines unter uns ſo dächte! Darum führt mich immerhin an den Ort, wo mein Leib geopfert werden ſoll, bekränzet mich, wie man ein Opferthier bekränzt, zücket den Stahl, meine Seele wird willig ent¬ fliehen!“ — Jolaus und alle Umſtehende ſchwiegen lange, nachdem das heldenmüthige Mädchen ihre feu¬ rige Anrede längſt geendet hatte. Endlich ſprach der Führer der Herakliden: „Jungfrau, du haſt deines Vaters würdig geſprochen: ich ſchäme mich deiner Worte nicht, obwohl ich dein Geſchick beweine. Mir aber däuchte billig, daß alle Töchter deines Stammes zuſammenkämen, und das Loos entſchiede, welche für ihre Brüder ſterben ſoll!“ — „Ich möchte nicht durch das Loos ſterben,“ antwortete Makaria freudig, „aber zögert nicht lange, daß nicht der Feind euch überfalle und der Orakelſpruch vergebens euch verliehen ſey. Heißet die Frauen des Landes mit mir gehen, daß ich nicht vor Männeraugen ſterbe.“ So ging die hochgeſinnte Jungfrau, von den edelſten Frauen Athens begleitet, freiwilligem Tode entgegen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0420"n="394"/>
mögen: eine reine Jungfrau aus edlem Stamme ſollet<lb/>
ihr ſchlachten. Habt ihr denn gar nicht daran gedacht,<lb/>
daß die jungfräuliche Tochter des adligſten Sterblichen,<lb/>
des Herkules, in ihrer Mitte weilt? Ja, ich ſelbſt<lb/>
biete mich als Opfer an, das den Göttern um ſo will¬<lb/>
kommener ſeyn muß, da es freiwillig iſt. Wenn dieſe Stadt<lb/>
edelmüthig genug für Herkules' Nachkommen einen ge¬<lb/>
fahrvollen Krieg unternimmt und ihre Söhne zu Hun¬<lb/>
derten opfern wird: wie ſollte ſich unter ſeiner Nachkom¬<lb/>
menſchaft nicht auch ein Leben finden, das bereit iſt, ſo<lb/>
trefflichen Männern durch ſeine Opferung den Sieg zu<lb/>ſichern? Wir wären nicht werth beſchirmt und gerettet<lb/>
zu werden, wenn keines unter uns ſo dächte! Darum<lb/>
führt mich immerhin an den Ort, wo mein Leib geopfert<lb/>
werden ſoll, bekränzet mich, wie man ein Opferthier<lb/>
bekränzt, zücket den Stahl, meine Seele wird willig ent¬<lb/>
fliehen!“— Jolaus und alle Umſtehende ſchwiegen<lb/>
lange, nachdem das heldenmüthige Mädchen ihre feu¬<lb/>
rige Anrede längſt geendet hatte. Endlich ſprach der<lb/>
Führer der Herakliden: „Jungfrau, du haſt deines Vaters<lb/>
würdig geſprochen: ich ſchäme mich deiner Worte nicht,<lb/>
obwohl ich dein Geſchick beweine. Mir aber däuchte<lb/>
billig, daß alle Töchter deines Stammes zuſammenkämen,<lb/>
und das Loos entſchiede, welche für ihre Brüder ſterben<lb/>ſoll!“—„Ich möchte nicht durch das Loos ſterben,“<lb/>
antwortete Makaria freudig, „aber zögert nicht lange,<lb/>
daß nicht der Feind euch überfalle und der Orakelſpruch<lb/>
vergebens euch verliehen ſey. Heißet die Frauen des Landes<lb/>
mit mir gehen, daß ich nicht vor Männeraugen ſterbe.“<lb/>
So ging die hochgeſinnte Jungfrau, von den edelſten<lb/>
Frauen Athens begleitet, freiwilligem Tode entgegen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></div></body></text></TEI>
[394/0420]
mögen: eine reine Jungfrau aus edlem Stamme ſollet
ihr ſchlachten. Habt ihr denn gar nicht daran gedacht,
daß die jungfräuliche Tochter des adligſten Sterblichen,
des Herkules, in ihrer Mitte weilt? Ja, ich ſelbſt
biete mich als Opfer an, das den Göttern um ſo will¬
kommener ſeyn muß, da es freiwillig iſt. Wenn dieſe Stadt
edelmüthig genug für Herkules' Nachkommen einen ge¬
fahrvollen Krieg unternimmt und ihre Söhne zu Hun¬
derten opfern wird: wie ſollte ſich unter ſeiner Nachkom¬
menſchaft nicht auch ein Leben finden, das bereit iſt, ſo
trefflichen Männern durch ſeine Opferung den Sieg zu
ſichern? Wir wären nicht werth beſchirmt und gerettet
zu werden, wenn keines unter uns ſo dächte! Darum
führt mich immerhin an den Ort, wo mein Leib geopfert
werden ſoll, bekränzet mich, wie man ein Opferthier
bekränzt, zücket den Stahl, meine Seele wird willig ent¬
fliehen!“ — Jolaus und alle Umſtehende ſchwiegen
lange, nachdem das heldenmüthige Mädchen ihre feu¬
rige Anrede längſt geendet hatte. Endlich ſprach der
Führer der Herakliden: „Jungfrau, du haſt deines Vaters
würdig geſprochen: ich ſchäme mich deiner Worte nicht,
obwohl ich dein Geſchick beweine. Mir aber däuchte
billig, daß alle Töchter deines Stammes zuſammenkämen,
und das Loos entſchiede, welche für ihre Brüder ſterben
ſoll!“ — „Ich möchte nicht durch das Loos ſterben,“
antwortete Makaria freudig, „aber zögert nicht lange,
daß nicht der Feind euch überfalle und der Orakelſpruch
vergebens euch verliehen ſey. Heißet die Frauen des Landes
mit mir gehen, daß ich nicht vor Männeraugen ſterbe.“
So ging die hochgeſinnte Jungfrau, von den edelſten
Frauen Athens begleitet, freiwilligem Tode entgegen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/420>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.