im Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterschieden; Alles war See, und gestadeloser See. Die Menschen suchten sich zu retten, so gut sie konnten; der Eine erkletterte den höchsten Berg, der andere bestieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach seines versunkenen Landhauses oder über die Hügel seiner Weinpflanzungen hin, daß der Kiel an ihnen streifte. In den Aesten der Wälder arbeiteten sich die Fische ab; den Eber, den ei¬ lenden Hirsch erjagte die Fluth; ganze Völker wurden vom Wasser hinweggerafft, und was die Welle verschonte, starb den Hungertod auf den ungebauten Haidegipfeln.
Ein solcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phocis über die Alles bedeckende Meerfluth hervor. Es war der Parnassus. An ihn schwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den dieser gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit seiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein Mann, kein Weib war je er¬ funden worden, die an Rechtschaffenheit und Götterscheu diese beiden übertroffen hätten. Als nun Jupiter vom Him¬ mel herab schauend die Welt von stehenden Sümpfen über¬ schwemmt und von den vielen tausendmal Tausenden nur ein einziges Menschenpaar übrig sah, beide unsträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nord¬ wind aus, sprengte die schwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde, und die Erde dem Himmel wieder. Auch Neptun der Meeresfürst legte den Dreizack nieder und besänftigte die Fluth. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehr¬ ten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folg¬
Schwab, das klass. Alterthum. I. 2
im Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterſchieden; Alles war See, und geſtadeloſer See. Die Menſchen ſuchten ſich zu retten, ſo gut ſie konnten; der Eine erkletterte den höchſten Berg, der andere beſtieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach ſeines verſunkenen Landhauſes oder über die Hügel ſeiner Weinpflanzungen hin, daß der Kiel an ihnen ſtreifte. In den Aeſten der Wälder arbeiteten ſich die Fiſche ab; den Eber, den ei¬ lenden Hirſch erjagte die Fluth; ganze Völker wurden vom Waſſer hinweggerafft, und was die Welle verſchonte, ſtarb den Hungertod auf den ungebauten Haidegipfeln.
Ein ſolcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phocis über die Alles bedeckende Meerfluth hervor. Es war der Parnaſſus. An ihn ſchwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den dieſer gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit ſeiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein Mann, kein Weib war je er¬ funden worden, die an Rechtſchaffenheit und Götterſcheu dieſe beiden übertroffen hätten. Als nun Jupiter vom Him¬ mel herab ſchauend die Welt von ſtehenden Sümpfen über¬ ſchwemmt und von den vielen tauſendmal Tauſenden nur ein einziges Menſchenpaar übrig ſah, beide unſträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da ſandte er den Nord¬ wind aus, ſprengte die ſchwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde, und die Erde dem Himmel wieder. Auch Neptun der Meeresfürſt legte den Dreizack nieder und beſänftigte die Fluth. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüſſe kehr¬ ten in ihr Bett zurück; Wälder ſtreckten ihre mit Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folg¬
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0043"n="17"/>
im Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr<lb/>
unterſchieden; Alles war See, und geſtadeloſer See. Die<lb/>
Menſchen ſuchten ſich zu retten, ſo gut ſie konnten; der<lb/>
Eine erkletterte den höchſten Berg, der andere beſtieg einen<lb/>
Kahn und ruderte nun über das Dach ſeines verſunkenen<lb/>
Landhauſes oder über die Hügel ſeiner Weinpflanzungen<lb/>
hin, daß der Kiel an ihnen ſtreifte. In den Aeſten der<lb/>
Wälder arbeiteten ſich die Fiſche ab; den Eber, den ei¬<lb/>
lenden Hirſch erjagte die Fluth; ganze Völker wurden<lb/>
vom Waſſer hinweggerafft, und was die Welle verſchonte,<lb/>ſtarb den Hungertod auf den ungebauten Haidegipfeln.</p><lb/><p>Ein ſolcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen<lb/>
im Lande Phocis über die Alles bedeckende Meerfluth<lb/>
hervor. Es war der Parnaſſus. An ihn ſchwamm<lb/><hirendition="#g">Deukalion</hi>, des Prometheus Sohn, den dieſer gewarnt<lb/>
und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit ſeiner Gattin Pyrrha<lb/>
im Nachen heran. Kein Mann, kein Weib war je er¬<lb/>
funden worden, die an Rechtſchaffenheit und Götterſcheu<lb/>
dieſe beiden übertroffen hätten. Als nun Jupiter vom Him¬<lb/>
mel herab ſchauend die Welt von ſtehenden Sümpfen über¬<lb/>ſchwemmt und von den vielen tauſendmal Tauſenden nur<lb/>
ein einziges Menſchenpaar übrig ſah, beide unſträflich, beide<lb/>
andächtige Verehrer der Gottheit, da ſandte er den Nord¬<lb/>
wind aus, ſprengte die ſchwarzen Wolken und hieß ihn<lb/>
die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde,<lb/>
und die Erde dem Himmel wieder. Auch Neptun der<lb/>
Meeresfürſt legte den Dreizack nieder und beſänftigte die<lb/>
Fluth. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüſſe kehr¬<lb/>
ten in ihr Bett zurück; Wälder ſtreckten ihre mit Schlamm<lb/>
bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folg¬<lb/><fwtype="sig"place="bottom">Schwab, das klaſſ. Alterthum. <hirendition="#aq">I</hi>. 2<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[17/0043]
im Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr
unterſchieden; Alles war See, und geſtadeloſer See. Die
Menſchen ſuchten ſich zu retten, ſo gut ſie konnten; der
Eine erkletterte den höchſten Berg, der andere beſtieg einen
Kahn und ruderte nun über das Dach ſeines verſunkenen
Landhauſes oder über die Hügel ſeiner Weinpflanzungen
hin, daß der Kiel an ihnen ſtreifte. In den Aeſten der
Wälder arbeiteten ſich die Fiſche ab; den Eber, den ei¬
lenden Hirſch erjagte die Fluth; ganze Völker wurden
vom Waſſer hinweggerafft, und was die Welle verſchonte,
ſtarb den Hungertod auf den ungebauten Haidegipfeln.
Ein ſolcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen
im Lande Phocis über die Alles bedeckende Meerfluth
hervor. Es war der Parnaſſus. An ihn ſchwamm
Deukalion, des Prometheus Sohn, den dieſer gewarnt
und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit ſeiner Gattin Pyrrha
im Nachen heran. Kein Mann, kein Weib war je er¬
funden worden, die an Rechtſchaffenheit und Götterſcheu
dieſe beiden übertroffen hätten. Als nun Jupiter vom Him¬
mel herab ſchauend die Welt von ſtehenden Sümpfen über¬
ſchwemmt und von den vielen tauſendmal Tauſenden nur
ein einziges Menſchenpaar übrig ſah, beide unſträflich, beide
andächtige Verehrer der Gottheit, da ſandte er den Nord¬
wind aus, ſprengte die ſchwarzen Wolken und hieß ihn
die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde,
und die Erde dem Himmel wieder. Auch Neptun der
Meeresfürſt legte den Dreizack nieder und beſänftigte die
Fluth. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüſſe kehr¬
ten in ihr Bett zurück; Wälder ſtreckten ihre mit Schlamm
bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folg¬
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/43>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.