kränken will!" Aber dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem freundlichen Worte: "Entweder trügt mich mein Scharfsinn oder die Worte der Götter sind fromm und verbergen keinen Frevel! Unsre große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine; und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!"
Beide mistrauten indessen dieser Deutung noch lange. Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie. So gingen sie dann seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider, und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine hinter sich. Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; mensch¬ liche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deut¬ lich, sondern rohen Gebilden, oder einer in Marmor vom Künstler erst aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den Steinen Feuchtes oder Erdigtes war, das wurde zu Fleisch an dem Kör¬ per; das Unbeugsame, Feste ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewan¬ nen mit Hülfe der Götter in kurzer Frist die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe geworfenen weibliche.
Diesen seinen Ursprung verläugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.
2*
kränken will!“ Aber dem Deukalion fuhr es durch den Geiſt wie ein Lichtſtrahl. Er beruhigte ſeine Gattin mit dem freundlichen Worte: „Entweder trügt mich mein Scharfſinn oder die Worte der Götter ſind fromm und verbergen keinen Frevel! Unſre große Mutter, das iſt die Erde, ihre Knochen ſind die Steine; und dieſe, Pyrrha, ſollen wir hinter uns werfen!“
Beide miſtrauten indeſſen dieſer Deutung noch lange. Jedoch, was ſchadet die Probe, dachten ſie. So gingen ſie dann ſeitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider, und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine hinter ſich. Da ereignete ſich ein großes Wunder: das Geſtein begann ſeine Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geſchmeidig, wuchs, gewann eine Geſtalt; menſch¬ liche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deut¬ lich, ſondern rohen Gebilden, oder einer in Marmor vom Künſtler erſt aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den Steinen Feuchtes oder Erdigtes war, das wurde zu Fleiſch an dem Kör¬ per; das Unbeugſame, Feſte ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewan¬ nen mit Hülfe der Götter in kurzer Friſt die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe geworfenen weibliche.
Dieſen ſeinen Ursprung verläugnet das menſchliche Geſchlecht nicht, es iſt ein hartes Geſchlecht und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachſen iſt.
2*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0045"n="19"/>
kränken will!“ Aber dem Deukalion fuhr es durch den<lb/>
Geiſt wie ein Lichtſtrahl. Er beruhigte ſeine Gattin mit<lb/>
dem freundlichen Worte: „Entweder trügt mich mein<lb/>
Scharfſinn oder die Worte der Götter ſind fromm und<lb/>
verbergen keinen Frevel! Unſre große Mutter, das iſt<lb/>
die Erde, ihre Knochen ſind die Steine; und dieſe,<lb/>
Pyrrha, ſollen wir hinter uns werfen!“</p><lb/><p>Beide miſtrauten indeſſen dieſer Deutung noch lange.<lb/>
Jedoch, was ſchadet die Probe, dachten ſie. So gingen<lb/>ſie dann ſeitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre<lb/>
Kleider, und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine<lb/>
hinter ſich. Da ereignete ſich ein großes Wunder: das<lb/>
Geſtein begann ſeine Härtigkeit und Spröde abzulegen,<lb/>
wurde geſchmeidig, wuchs, gewann eine Geſtalt; menſch¬<lb/>
liche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deut¬<lb/>
lich, ſondern rohen Gebilden, oder einer in Marmor<lb/>
vom Künſtler erſt aus dem Groben herausgemeißelten<lb/>
Figur ähnlich. Was jedoch an den Steinen Feuchtes<lb/>
oder Erdigtes war, das wurde zu Fleiſch an dem Kör¬<lb/>
per; das Unbeugſame, Feſte ward in Knochen verwandelt;<lb/>
das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewan¬<lb/>
nen mit Hülfe der Götter in kurzer Friſt die vom Manne<lb/>
geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe<lb/>
geworfenen weibliche.</p><lb/><p>Dieſen ſeinen Ursprung verläugnet das menſchliche<lb/>
Geſchlecht nicht, es iſt ein hartes Geſchlecht und tauglich<lb/>
zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus<lb/>
welchem Stamm es erwachſen iſt.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><fwtype="sig"place="bottom">2*<lb/></fw></div></div></body></text></TEI>
[19/0045]
kränken will!“ Aber dem Deukalion fuhr es durch den
Geiſt wie ein Lichtſtrahl. Er beruhigte ſeine Gattin mit
dem freundlichen Worte: „Entweder trügt mich mein
Scharfſinn oder die Worte der Götter ſind fromm und
verbergen keinen Frevel! Unſre große Mutter, das iſt
die Erde, ihre Knochen ſind die Steine; und dieſe,
Pyrrha, ſollen wir hinter uns werfen!“
Beide miſtrauten indeſſen dieſer Deutung noch lange.
Jedoch, was ſchadet die Probe, dachten ſie. So gingen
ſie dann ſeitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre
Kleider, und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine
hinter ſich. Da ereignete ſich ein großes Wunder: das
Geſtein begann ſeine Härtigkeit und Spröde abzulegen,
wurde geſchmeidig, wuchs, gewann eine Geſtalt; menſch¬
liche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deut¬
lich, ſondern rohen Gebilden, oder einer in Marmor
vom Künſtler erſt aus dem Groben herausgemeißelten
Figur ähnlich. Was jedoch an den Steinen Feuchtes
oder Erdigtes war, das wurde zu Fleiſch an dem Kör¬
per; das Unbeugſame, Feſte ward in Knochen verwandelt;
das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewan¬
nen mit Hülfe der Götter in kurzer Friſt die vom Manne
geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe
geworfenen weibliche.
Dieſen ſeinen Ursprung verläugnet das menſchliche
Geſchlecht nicht, es iſt ein hartes Geſchlecht und tauglich
zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus
welchem Stamm es erwachſen iſt.
2*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/45>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.