las, daß er sein eigenes Kind vor sich habe. "Ich Un¬ glückseliger," rief der Greis bei dieser Entdeckung aus, indem er sich an Horn und Nacken der stöhnenden Toch¬ ter hing, "so muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder gesucht habe! Wehe mir, du hast mir weniger Kummer gemacht, so lange ich dich suchte, als jetzt, wo ich dich gefunden habe! Du schweigst? Du kannst mir kein tröstendes Wort sagen, mir nur mit einem Gebrüll antworten! Ich Thor, einst sann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Eidam zuführen könnte, und dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun bist du ein Kind der Herde --" Argus, der grausame Wächter, ließ den jam¬ mernden Vater nicht vollenden, er riß sie von dem Vater hinweg und schleppte sie fort, auf einsame Waiden. Dann klomm er selbst einen Berggipfel empor und versah sein Amt, indem er mit seinen hundert Augen wachsam nach allen vier Winden hinauslugte.
Jupiter konnte das Leid der Inachustochter nicht länger ertragen. Er rief seinem geliebten Sohne Merkur, und befahl ihm, seine List zu brauchen, und dem verhaßten Wächter das Augenlicht auszulöschen. Dieser beflügelte seine Füsse, ergriff mit der mächtigen Hand seine einschläfernde Ruthe und setzte seinen Reisehut auf. So fuhr er von dem Pallaste seines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er Hut und Schwingen ab, und behielt nur den Stab; so stellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an sich und trieb sie auf die abgelegenen Fluren, wo Io waidete und Argus die Wache hielt. Dort angekommen, zog er ein Hirten¬ rohr, das man Syringe nennt, hervor und fing an so anmuthig und voll zu blasen, wie man von irdischen Hir¬ ten zu vernehmen nicht gewohnt ist. Der Diener Juno's
las, daß er ſein eigenes Kind vor ſich habe. „Ich Un¬ glückſeliger,“ rief der Greis bei dieſer Entdeckung aus, indem er ſich an Horn und Nacken der ſtöhnenden Toch¬ ter hing, „ſo muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder geſucht habe! Wehe mir, du haſt mir weniger Kummer gemacht, ſo lange ich dich ſuchte, als jetzt, wo ich dich gefunden habe! Du ſchweigſt? Du kannſt mir kein tröſtendes Wort ſagen, mir nur mit einem Gebrüll antworten! Ich Thor, einſt ſann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Eidam zuführen könnte, und dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun biſt du ein Kind der Herde —“ Argus, der grauſame Wächter, ließ den jam¬ mernden Vater nicht vollenden, er riß ſie von dem Vater hinweg und ſchleppte ſie fort, auf einſame Waiden. Dann klomm er ſelbſt einen Berggipfel empor und verſah ſein Amt, indem er mit ſeinen hundert Augen wachſam nach allen vier Winden hinauslugte.
Jupiter konnte das Leid der Inachustochter nicht länger ertragen. Er rief ſeinem geliebten Sohne Merkur, und befahl ihm, ſeine Liſt zu brauchen, und dem verhaßten Wächter das Augenlicht auszulöſchen. Dieſer beflügelte ſeine Füſſe, ergriff mit der mächtigen Hand ſeine einſchläfernde Ruthe und ſetzte ſeinen Reiſehut auf. So fuhr er von dem Pallaſte ſeines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er Hut und Schwingen ab, und behielt nur den Stab; ſo ſtellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an ſich und trieb ſie auf die abgelegenen Fluren, wo Io waidete und Argus die Wache hielt. Dort angekommen, zog er ein Hirten¬ rohr, das man Syringe nennt, hervor und fing an ſo anmuthig und voll zu blaſen, wie man von irdiſchen Hir¬ ten zu vernehmen nicht gewohnt iſt. Der Diener Juno's
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0050"n="24"/>
las, daß er ſein eigenes Kind vor ſich habe. „Ich Un¬<lb/>
glückſeliger,“ rief der Greis bei dieſer Entdeckung aus,<lb/>
indem er ſich an Horn und Nacken der ſtöhnenden Toch¬<lb/>
ter hing, „ſo muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle<lb/>
Länder geſucht habe! Wehe mir, du haſt mir weniger<lb/>
Kummer gemacht, ſo lange ich dich ſuchte, als jetzt, wo<lb/>
ich dich gefunden habe! Du ſchweigſt? Du kannſt mir<lb/>
kein tröſtendes Wort ſagen, mir nur mit einem Gebrüll<lb/>
antworten! Ich Thor, einſt ſann ich darauf, wie ich dir<lb/>
einen würdigen Eidam zuführen könnte, und dachte nur an<lb/>
Brautfackel und Vermählung. Nun biſt du ein Kind der<lb/>
Herde —“ Argus, der grauſame Wächter, ließ den jam¬<lb/>
mernden Vater nicht vollenden, er riß ſie von dem Vater<lb/>
hinweg und ſchleppte ſie fort, auf einſame Waiden. Dann<lb/>
klomm er ſelbſt einen Berggipfel empor und verſah ſein<lb/>
Amt, indem er mit ſeinen hundert Augen wachſam nach<lb/>
allen vier Winden hinauslugte.</p><lb/><p>Jupiter konnte das Leid der Inachustochter nicht<lb/>
länger ertragen. Er rief ſeinem geliebten Sohne Merkur,<lb/>
und befahl ihm, ſeine Liſt zu brauchen, und dem verhaßten<lb/>
Wächter das Augenlicht auszulöſchen. Dieſer beflügelte ſeine<lb/>
Füſſe, ergriff mit der mächtigen Hand ſeine einſchläfernde<lb/>
Ruthe und ſetzte ſeinen Reiſehut auf. So fuhr er von dem<lb/>
Pallaſte ſeines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er<lb/>
Hut und Schwingen ab, und behielt nur den Stab; ſo<lb/>ſtellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an ſich und trieb<lb/>ſie auf die abgelegenen Fluren, wo Io waidete und Argus<lb/>
die Wache hielt. Dort angekommen, zog er ein Hirten¬<lb/>
rohr, das man Syringe nennt, hervor und fing an ſo<lb/>
anmuthig und voll zu blaſen, wie man von irdiſchen Hir¬<lb/>
ten zu vernehmen nicht gewohnt iſt. Der Diener Juno's<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[24/0050]
las, daß er ſein eigenes Kind vor ſich habe. „Ich Un¬
glückſeliger,“ rief der Greis bei dieſer Entdeckung aus,
indem er ſich an Horn und Nacken der ſtöhnenden Toch¬
ter hing, „ſo muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle
Länder geſucht habe! Wehe mir, du haſt mir weniger
Kummer gemacht, ſo lange ich dich ſuchte, als jetzt, wo
ich dich gefunden habe! Du ſchweigſt? Du kannſt mir
kein tröſtendes Wort ſagen, mir nur mit einem Gebrüll
antworten! Ich Thor, einſt ſann ich darauf, wie ich dir
einen würdigen Eidam zuführen könnte, und dachte nur an
Brautfackel und Vermählung. Nun biſt du ein Kind der
Herde —“ Argus, der grauſame Wächter, ließ den jam¬
mernden Vater nicht vollenden, er riß ſie von dem Vater
hinweg und ſchleppte ſie fort, auf einſame Waiden. Dann
klomm er ſelbſt einen Berggipfel empor und verſah ſein
Amt, indem er mit ſeinen hundert Augen wachſam nach
allen vier Winden hinauslugte.
Jupiter konnte das Leid der Inachustochter nicht
länger ertragen. Er rief ſeinem geliebten Sohne Merkur,
und befahl ihm, ſeine Liſt zu brauchen, und dem verhaßten
Wächter das Augenlicht auszulöſchen. Dieſer beflügelte ſeine
Füſſe, ergriff mit der mächtigen Hand ſeine einſchläfernde
Ruthe und ſetzte ſeinen Reiſehut auf. So fuhr er von dem
Pallaſte ſeines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er
Hut und Schwingen ab, und behielt nur den Stab; ſo
ſtellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an ſich und trieb
ſie auf die abgelegenen Fluren, wo Io waidete und Argus
die Wache hielt. Dort angekommen, zog er ein Hirten¬
rohr, das man Syringe nennt, hervor und fing an ſo
anmuthig und voll zu blaſen, wie man von irdiſchen Hir¬
ten zu vernehmen nicht gewohnt iſt. Der Diener Juno's
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/50>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.