Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

regierte. Hier sah er an eine hervorragende Meeres¬
klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬
haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen
gezittert, so würde er sie für ein Marmorbild gehalten
haben. Fast hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen
vergessen, so bezaubert war er von dem Reize ihrer
Schönheit. "Sprich, schöne Jungfrau," redete er sie an,
"du, die du ganz anderes Geschmeide verdientest, warum
bist du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬
nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!" Das ge¬
fesselte Mädchen schwieg verschämt; sie scheute sich den
fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angesicht
mit den Händen bedeckt, wenn sie sie hätte regen können.
So aber konnte sie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬
nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben
möchte, sie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬
gen, erwiederte sie: "Ich bin Cepheus des Königs der
Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬
ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬
nymphen, geprahlt, schöner zu seyn als sie Alle. Darüber
zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ
eine Ueberschwemmung und einen alles verschlingenden
Haifisch über das Land kommen. Ein Orakelspruch ver¬
sprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬
ter der Königin, dem Fische zum Fraße hingeworfen würde.
Das Volk drang in meinen Vater, dieses Rettungsmittel
zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an
diesen Felsen zu binden."

Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen,
als die Wogen aufrauschten und aus der Tiefe des Mee¬
res ein Scheusal auftauchte, das mit seiner breiten Brust

regierte. Hier ſah er an eine hervorragende Meeres¬
klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬
haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen
gezittert, ſo würde er ſie für ein Marmorbild gehalten
haben. Faſt hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen
vergeſſen, ſo bezaubert war er von dem Reize ihrer
Schönheit. „Sprich, ſchöne Jungfrau,“ redete er ſie an,
„du, die du ganz anderes Geſchmeide verdienteſt, warum
biſt du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬
nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!“ Das ge¬
feſſelte Mädchen ſchwieg verſchämt; ſie ſcheute ſich den
fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angeſicht
mit den Händen bedeckt, wenn ſie ſie hätte regen können.
So aber konnte ſie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬
nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben
möchte, ſie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬
gen, erwiederte ſie: „Ich bin Cepheus des Königs der
Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬
ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬
nymphen, geprahlt, ſchöner zu ſeyn als ſie Alle. Darüber
zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ
eine Ueberſchwemmung und einen alles verſchlingenden
Haifiſch über das Land kommen. Ein Orakelſpruch ver¬
ſprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬
ter der Königin, dem Fiſche zum Fraße hingeworfen würde.
Das Volk drang in meinen Vater, dieſes Rettungsmittel
zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an
dieſen Felſen zu binden.“

Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgeſprochen,
als die Wogen aufrauſchten und aus der Tiefe des Mee¬
res ein Scheuſal auftauchte, das mit ſeiner breiten Bruſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0087" n="61"/>
regierte. Hier &#x017F;ah er an eine hervorragende Meeres¬<lb/>
klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬<lb/>
haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen<lb/>
gezittert, &#x017F;o würde er &#x017F;ie für ein Marmorbild gehalten<lb/>
haben. Fa&#x017F;t hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o bezaubert war er von dem Reize ihrer<lb/>
Schönheit. &#x201E;Sprich, &#x017F;chöne Jungfrau,&#x201C; redete er &#x017F;ie an,<lb/>
&#x201E;du, die du ganz anderes Ge&#x017F;chmeide verdiente&#x017F;t, warum<lb/>
bi&#x017F;t du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬<lb/>
nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!&#x201C; Das ge¬<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;elte Mädchen &#x017F;chwieg ver&#x017F;chämt; &#x017F;ie &#x017F;cheute &#x017F;ich den<lb/>
fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Ange&#x017F;icht<lb/>
mit den Händen bedeckt, wenn &#x017F;ie &#x017F;ie hätte regen können.<lb/>
So aber konnte &#x017F;ie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬<lb/>
nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben<lb/>
möchte, &#x017F;ie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬<lb/>
gen, erwiederte &#x017F;ie: &#x201E;Ich bin Cepheus des Königs der<lb/>
Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬<lb/>
ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬<lb/>
nymphen, geprahlt, &#x017F;chöner zu &#x017F;eyn als &#x017F;ie Alle. Darüber<lb/>
zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ<lb/>
eine Ueber&#x017F;chwemmung und einen alles ver&#x017F;chlingenden<lb/>
Haifi&#x017F;ch über das Land kommen. Ein Orakel&#x017F;pruch ver¬<lb/>
&#x017F;prach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬<lb/>
ter der Königin, dem Fi&#x017F;che zum Fraße hingeworfen würde.<lb/>
Das Volk drang in meinen Vater, die&#x017F;es Rettungsmittel<lb/>
zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an<lb/>
die&#x017F;en Fel&#x017F;en zu binden.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausge&#x017F;prochen,<lb/>
als die Wogen aufrau&#x017F;chten und aus der Tiefe des Mee¬<lb/>
res ein Scheu&#x017F;al auftauchte, das mit &#x017F;einer breiten Bru&#x017F;t<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0087] regierte. Hier ſah er an eine hervorragende Meeres¬ klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬ haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen gezittert, ſo würde er ſie für ein Marmorbild gehalten haben. Faſt hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen vergeſſen, ſo bezaubert war er von dem Reize ihrer Schönheit. „Sprich, ſchöne Jungfrau,“ redete er ſie an, „du, die du ganz anderes Geſchmeide verdienteſt, warum biſt du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬ nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!“ Das ge¬ feſſelte Mädchen ſchwieg verſchämt; ſie ſcheute ſich den fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angeſicht mit den Händen bedeckt, wenn ſie ſie hätte regen können. So aber konnte ſie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬ nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben möchte, ſie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬ gen, erwiederte ſie: „Ich bin Cepheus des Königs der Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬ ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬ nymphen, geprahlt, ſchöner zu ſeyn als ſie Alle. Darüber zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ eine Ueberſchwemmung und einen alles verſchlingenden Haifiſch über das Land kommen. Ein Orakelſpruch ver¬ ſprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬ ter der Königin, dem Fiſche zum Fraße hingeworfen würde. Das Volk drang in meinen Vater, dieſes Rettungsmittel zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an dieſen Felſen zu binden.“ Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgeſprochen, als die Wogen aufrauſchten und aus der Tiefe des Mee¬ res ein Scheuſal auftauchte, das mit ſeiner breiten Bruſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/87
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/87>, abgerufen am 21.11.2024.