regierte. Hier sah er an eine hervorragende Meeres¬ klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬ haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen gezittert, so würde er sie für ein Marmorbild gehalten haben. Fast hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen vergessen, so bezaubert war er von dem Reize ihrer Schönheit. "Sprich, schöne Jungfrau," redete er sie an, "du, die du ganz anderes Geschmeide verdientest, warum bist du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬ nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!" Das ge¬ fesselte Mädchen schwieg verschämt; sie scheute sich den fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angesicht mit den Händen bedeckt, wenn sie sie hätte regen können. So aber konnte sie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬ nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben möchte, sie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬ gen, erwiederte sie: "Ich bin Cepheus des Königs der Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬ ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬ nymphen, geprahlt, schöner zu seyn als sie Alle. Darüber zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ eine Ueberschwemmung und einen alles verschlingenden Haifisch über das Land kommen. Ein Orakelspruch ver¬ sprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬ ter der Königin, dem Fische zum Fraße hingeworfen würde. Das Volk drang in meinen Vater, dieses Rettungsmittel zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an diesen Felsen zu binden."
Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, als die Wogen aufrauschten und aus der Tiefe des Mee¬ res ein Scheusal auftauchte, das mit seiner breiten Brust
regierte. Hier ſah er an eine hervorragende Meeres¬ klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬ haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen gezittert, ſo würde er ſie für ein Marmorbild gehalten haben. Faſt hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen vergeſſen, ſo bezaubert war er von dem Reize ihrer Schönheit. „Sprich, ſchöne Jungfrau,“ redete er ſie an, „du, die du ganz anderes Geſchmeide verdienteſt, warum biſt du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬ nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!“ Das ge¬ feſſelte Mädchen ſchwieg verſchämt; ſie ſcheute ſich den fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angeſicht mit den Händen bedeckt, wenn ſie ſie hätte regen können. So aber konnte ſie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬ nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben möchte, ſie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬ gen, erwiederte ſie: „Ich bin Cepheus des Königs der Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬ ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬ nymphen, geprahlt, ſchöner zu ſeyn als ſie Alle. Darüber zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ eine Ueberſchwemmung und einen alles verſchlingenden Haifiſch über das Land kommen. Ein Orakelſpruch ver¬ ſprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬ ter der Königin, dem Fiſche zum Fraße hingeworfen würde. Das Volk drang in meinen Vater, dieſes Rettungsmittel zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an dieſen Felſen zu binden.“
Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgeſprochen, als die Wogen aufrauſchten und aus der Tiefe des Mee¬ res ein Scheuſal auftauchte, das mit ſeiner breiten Bruſt
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regierte. Hier ſah er an eine hervorragende Meeres¬
klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬
haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen
gezittert, ſo würde er ſie für ein Marmorbild gehalten
haben. Faſt hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen
vergeſſen, ſo bezaubert war er von dem Reize ihrer
Schönheit. „Sprich, ſchöne Jungfrau,“ redete er ſie an,
„du, die du ganz anderes Geſchmeide verdienteſt, warum
biſt du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬
nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!“ Das ge¬
feſſelte Mädchen ſchwieg verſchämt; ſie ſcheute ſich den
fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angeſicht
mit den Händen bedeckt, wenn ſie ſie hätte regen können.
So aber konnte ſie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬
nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben
möchte, ſie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬
gen, erwiederte ſie: „Ich bin Cepheus des Königs der
Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬
ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬
nymphen, geprahlt, ſchöner zu ſeyn als ſie Alle. Darüber
zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ
eine Ueberſchwemmung und einen alles verſchlingenden
Haifiſch über das Land kommen. Ein Orakelſpruch ver¬
ſprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬
ter der Königin, dem Fiſche zum Fraße hingeworfen würde.
Das Volk drang in meinen Vater, dieſes Rettungsmittel
zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an
dieſen Felſen zu binden.“
Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgeſprochen,
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/87>, abgerufen am 21.11.2024.
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