Kniee umschlingend, mit der Rechten nach der Sitte Fle¬ hender sein Kinn berührend, sprach sie zu ihm: "Vater Zeus, wenn ich dir je mit Worten oder Thaten gedient habe, so gewähre mir mein Verlangen: Ehre meinen Sohn, der vom Geschicke so früh zu welken bestimmt ist; Agamemnon hat ihn jetzt eben aufs Tiefste gekränkt und ihm das Ehrengeschenk entzogen, das er selbst erbeutet hatte. Deswegen bitte ich dich, Göttervater, gib den Trojanern so lange Sieg, bis die Griechen meinem Sohne wieder die verdiente Ehre erweisen!" Lange blieb Jupiter unbeweglich und schweigend. Aber Thetis schmiegte sich ihm immer fester ans Knie und flüsterte: "So gewähre mir doch meine Bitte, Vater, oder verweigere sie mir rund weg, damit ich es wisse, ob ich mehr als alle andere Götter einer Ehre von dir gewürdigt werde!" So nöthigte sie endlich den Vater der Götter zu der unmuthigen Ant¬ wort: "Es ist nicht zum Heile, daß du mich zwingst, mit der Göttermutter Juno zu hadern, die ohnehin mir immer zuwider ist. Eile nur hinweg, daß sie dich nicht bemerke, und es genüge dir der Wink meines Hauptes, welcher der untrüglichsten Verheißung gleich ist." So sprechend nickte Jupiter mit seinen Augenbraunen und die Höhen des Olymps erbebten von dem Nicken seines Hauptes. Zufrie¬ den fuhr Thetis hinab zur Meerestiefe. Juno aber, welche die Rathschlagung ihres Gemahles mit der Göttin wohl beachtet hatte, trat heran zu Jupiter und reizte ihn mit Vorwürfen. Doch dieser antwortete der Göttin ruhig: "Getraue dir nicht einzusehen, was ich beschließe; schweig und gehorche meinem Gebote." Da erschrack Juno vor dem Wort ihres Gemahls, des Götter- und Menschenvaters, und wagte nicht weiter Einsprache gegen seinen Entschluß zu thun.
Kniee umſchlingend, mit der Rechten nach der Sitte Fle¬ hender ſein Kinn berührend, ſprach ſie zu ihm: „Vater Zeus, wenn ich dir je mit Worten oder Thaten gedient habe, ſo gewähre mir mein Verlangen: Ehre meinen Sohn, der vom Geſchicke ſo früh zu welken beſtimmt iſt; Agamemnon hat ihn jetzt eben aufs Tiefſte gekränkt und ihm das Ehrengeſchenk entzogen, das er ſelbſt erbeutet hatte. Deswegen bitte ich dich, Göttervater, gib den Trojanern ſo lange Sieg, bis die Griechen meinem Sohne wieder die verdiente Ehre erweiſen!“ Lange blieb Jupiter unbeweglich und ſchweigend. Aber Thetis ſchmiegte ſich ihm immer feſter ans Knie und flüſterte: „So gewähre mir doch meine Bitte, Vater, oder verweigere ſie mir rund weg, damit ich es wiſſe, ob ich mehr als alle andere Götter einer Ehre von dir gewürdigt werde!“ So nöthigte ſie endlich den Vater der Götter zu der unmuthigen Ant¬ wort: „Es iſt nicht zum Heile, daß du mich zwingſt, mit der Göttermutter Juno zu hadern, die ohnehin mir immer zuwider iſt. Eile nur hinweg, daß ſie dich nicht bemerke, und es genüge dir der Wink meines Hauptes, welcher der untrüglichſten Verheißung gleich iſt.“ So ſprechend nickte Jupiter mit ſeinen Augenbraunen und die Höhen des Olymps erbebten von dem Nicken ſeines Hauptes. Zufrie¬ den fuhr Thetis hinab zur Meerestiefe. Juno aber, welche die Rathſchlagung ihres Gemahles mit der Göttin wohl beachtet hatte, trat heran zu Jupiter und reizte ihn mit Vorwürfen. Doch dieſer antwortete der Göttin ruhig: „Getraue dir nicht einzuſehen, was ich beſchließe; ſchweig und gehorche meinem Gebote.“ Da erſchrack Juno vor dem Wort ihres Gemahls, des Götter- und Menſchenvaters, und wagte nicht weiter Einſprache gegen ſeinen Entſchluß zu thun.
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Kniee umſchlingend, mit der Rechten nach der Sitte Fle¬
hender ſein Kinn berührend, ſprach ſie zu ihm: „Vater
Zeus, wenn ich dir je mit Worten oder Thaten gedient
habe, ſo gewähre mir mein Verlangen: Ehre meinen
Sohn, der vom Geſchicke ſo früh zu welken beſtimmt iſt;
Agamemnon hat ihn jetzt eben aufs Tiefſte gekränkt und
ihm das Ehrengeſchenk entzogen, das er ſelbſt erbeutet
hatte. Deswegen bitte ich dich, Göttervater, gib den
Trojanern ſo lange Sieg, bis die Griechen meinem Sohne
wieder die verdiente Ehre erweiſen!“ Lange blieb Jupiter
unbeweglich und ſchweigend. Aber Thetis ſchmiegte ſich
ihm immer feſter ans Knie und flüſterte: „So gewähre
mir doch meine Bitte, Vater, oder verweigere ſie mir rund
weg, damit ich es wiſſe, ob ich mehr als alle andere
Götter einer Ehre von dir gewürdigt werde!“ So nöthigte
ſie endlich den Vater der Götter zu der unmuthigen Ant¬
wort: „Es iſt nicht zum Heile, daß du mich zwingſt, mit
der Göttermutter Juno zu hadern, die ohnehin mir immer
zuwider iſt. Eile nur hinweg, daß ſie dich nicht bemerke,
und es genüge dir der Wink meines Hauptes, welcher der
untrüglichſten Verheißung gleich iſt.“ So ſprechend nickte
Jupiter mit ſeinen Augenbraunen und die Höhen des
Olymps erbebten von dem Nicken ſeines Hauptes. Zufrie¬
den fuhr Thetis hinab zur Meerestiefe. Juno aber, welche
die Rathſchlagung ihres Gemahles mit der Göttin wohl
beachtet hatte, trat heran zu Jupiter und reizte ihn mit
Vorwürfen. Doch dieſer antwortete der Göttin ruhig:
„Getraue dir nicht einzuſehen, was ich beſchließe; ſchweig und
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/114>, abgerufen am 21.11.2024.
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