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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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so viel Schlafröcke, Leibröcke und prächtige Mäntel aus.
Dann wog er zehn volle Talente Goldes dar, erlas wei¬
ter vier schimmernde Becken, zwei Dreifüße; ja selbst einen
köstlichen Becher, den ihm die Thrazier geschenkt hatten,
als er zu ihnen auf Gesandtschaft kam, sparte der Greis
nicht. So begierig war er, seinen trautesten Sohn zu
lösen! Dann scheuchte er sämmtliche Trojaner, die ihn
aufhalten wollten, aus der Halle, und bedrohte sie: "Ihr
Nichtswürdigen, habt ihr nicht Gram im Hause genug,
daß ihr herkommet, um auch mich zu bekümmern? Achtet
ihr es für etwas Kleines, daß Jupiter den Jammer über
mich verhängte, meinen tapfersten Sohn zu verlieren?
Doch, ihr werdet's schon erfahren. Möchte nur ich in den
Hades hinuntergehen, eh' ich die Trümmerhaufen eurer
Stadt schaue!" So scheuchte er sie mit dem Stabe hin¬
aus; dann rief er scheltend seine Söhne: "Ihr Schändli¬
chen, Untüchtigen, lägt ihr mir doch alle an Hektors
Statt getödtet bei den Schiffen. Alle guten sind todt, nur
die Schandflecke sind übrig, Lügner, Gaukler, Reigentänzer,
die im Fette des Volkes schwelgen! Werdet ihr mir nicht
sogleich den Wagen ausrüsten, und alles dieses in den
Korb hineinlegen, damit ich meinen Weg vollenden kann?"
Erschrocken gehorchten die Söhne dem murrenden Vater,
spannten die Maulthiere vor den Lastwagen, und luden
die Lösegeschenke auf. Alsdann spannten sie auch die
sorglich gepflegten Rosse an den Wagen des Priamus,
und der greise Herold, der ihn begleiten sollte, war auf
der Stelle. Mit bekümmertem Herzen reichte Hekuba dem
Könige den goldenen Becher zum Opfertrank; die Schaff¬
nerin nahte ihm mit Waschgefäß und Kanne, und als
Priamus sich die Hände mit lauterm Wasser besprengt,

ſo viel Schlafröcke, Leibröcke und prächtige Mäntel aus.
Dann wog er zehn volle Talente Goldes dar, erlas wei¬
ter vier ſchimmernde Becken, zwei Dreifüße; ja ſelbſt einen
köſtlichen Becher, den ihm die Thrazier geſchenkt hatten,
als er zu ihnen auf Geſandtſchaft kam, ſparte der Greis
nicht. So begierig war er, ſeinen trauteſten Sohn zu
löſen! Dann ſcheuchte er ſämmtliche Trojaner, die ihn
aufhalten wollten, aus der Halle, und bedrohte ſie: „Ihr
Nichtswürdigen, habt ihr nicht Gram im Hauſe genug,
daß ihr herkommet, um auch mich zu bekümmern? Achtet
ihr es für etwas Kleines, daß Jupiter den Jammer über
mich verhängte, meinen tapferſten Sohn zu verlieren?
Doch, ihr werdet's ſchon erfahren. Möchte nur ich in den
Hades hinuntergehen, eh' ich die Trümmerhaufen eurer
Stadt ſchaue!“ So ſcheuchte er ſie mit dem Stabe hin¬
aus; dann rief er ſcheltend ſeine Söhne: „Ihr Schändli¬
chen, Untüchtigen, lägt ihr mir doch alle an Hektors
Statt getödtet bei den Schiffen. Alle guten ſind todt, nur
die Schandflecke ſind übrig, Lügner, Gaukler, Reigentänzer,
die im Fette des Volkes ſchwelgen! Werdet ihr mir nicht
ſogleich den Wagen ausrüſten, und alles dieſes in den
Korb hineinlegen, damit ich meinen Weg vollenden kann?“
Erſchrocken gehorchten die Söhne dem murrenden Vater,
ſpannten die Maulthiere vor den Laſtwagen, und luden
die Löſegeſchenke auf. Alsdann ſpannten ſie auch die
ſorglich gepflegten Roſſe an den Wagen des Priamus,
und der greiſe Herold, der ihn begleiten ſollte, war auf
der Stelle. Mit bekümmertem Herzen reichte Hekuba dem
Könige den goldenen Becher zum Opfertrank; die Schaff¬
nerin nahte ihm mit Waſchgefäß und Kanne, und als
Priamus ſich die Hände mit lauterm Waſſer beſprengt,

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[303/0325] ſo viel Schlafröcke, Leibröcke und prächtige Mäntel aus. Dann wog er zehn volle Talente Goldes dar, erlas wei¬ ter vier ſchimmernde Becken, zwei Dreifüße; ja ſelbſt einen köſtlichen Becher, den ihm die Thrazier geſchenkt hatten, als er zu ihnen auf Geſandtſchaft kam, ſparte der Greis nicht. So begierig war er, ſeinen trauteſten Sohn zu löſen! Dann ſcheuchte er ſämmtliche Trojaner, die ihn aufhalten wollten, aus der Halle, und bedrohte ſie: „Ihr Nichtswürdigen, habt ihr nicht Gram im Hauſe genug, daß ihr herkommet, um auch mich zu bekümmern? Achtet ihr es für etwas Kleines, daß Jupiter den Jammer über mich verhängte, meinen tapferſten Sohn zu verlieren? Doch, ihr werdet's ſchon erfahren. Möchte nur ich in den Hades hinuntergehen, eh' ich die Trümmerhaufen eurer Stadt ſchaue!“ So ſcheuchte er ſie mit dem Stabe hin¬ aus; dann rief er ſcheltend ſeine Söhne: „Ihr Schändli¬ chen, Untüchtigen, lägt ihr mir doch alle an Hektors Statt getödtet bei den Schiffen. Alle guten ſind todt, nur die Schandflecke ſind übrig, Lügner, Gaukler, Reigentänzer, die im Fette des Volkes ſchwelgen! Werdet ihr mir nicht ſogleich den Wagen ausrüſten, und alles dieſes in den Korb hineinlegen, damit ich meinen Weg vollenden kann?“ Erſchrocken gehorchten die Söhne dem murrenden Vater, ſpannten die Maulthiere vor den Laſtwagen, und luden die Löſegeſchenke auf. Alsdann ſpannten ſie auch die ſorglich gepflegten Roſſe an den Wagen des Priamus, und der greiſe Herold, der ihn begleiten ſollte, war auf der Stelle. Mit bekümmertem Herzen reichte Hekuba dem Könige den goldenen Becher zum Opfertrank; die Schaff¬ nerin nahte ihm mit Waſchgefäß und Kanne, und als Priamus ſich die Hände mit lauterm Waſſer beſprengt,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/325>, abgerufen am 22.11.2024.