Griechen es wüßten, so müßten deine Söhne daheim dich, den Lebenden, mit dreimal größerem Lösegeld auskaufen!" Der Greis erschrack und weckte den Herold; Merkur selbst spannte ihnen Rosse und Mäuler ein, und schwang sich zu dem König in den Wagen; Idäus lenkte die Maul¬ thiere mit dem Leichnam. So fuhren sie unbemerkt durch das Heer, und hatten bald das griechische Lager hinter sich.
Hektors Leichnam in Troja.
Merkur begleitete den König bis an die Furth des Skamander. Dort schied er aus dem Wagen, und entflog zum hohen Olymp. Priamus und der Herold aber trie¬ ben seufzend und wehklagend die Rosse mit dem Wagen des Königes, und die Maulthiere mit dem Leichnam in die Stadt. Es war früher Morgen, Alles lag noch im Schlummer, und Niemand sah sie herankommen; nur Kassandra hatte die Burg von Pergamus erstiegen, und erschaute von ferne ihren Vater im Wagensitze stehend, den Herold mit dem Maulthierwagen, und in diesem auf Gewanden ausgestreckt den Leichnam. Da begann sie laut zu wehklagen, und rief, daß es in der stillen Stadt wiederhallte: "Schaut doch hin, ihr Troer und ihr Troe¬ rinnen, dort kommt ja Hektor, ach nur der todte Hektor! Habt ihr euch jemals des Lebenden erfreut, wenn er sieg¬ reich aus der Feldschlacht zurückkehrte, so begrüßet jetzt auch den Gestorbenen!" Auf ihren Ruf blieb kein Mann und kein Weib in der Veste, denn aller Herzen durch¬ drang eine gränzenlose Trauer. Am Thore begegneten
Griechen es wüßten, ſo müßten deine Söhne daheim dich, den Lebenden, mit dreimal größerem Löſegeld auskaufen!“ Der Greis erſchrack und weckte den Herold; Merkur ſelbſt ſpannte ihnen Roſſe und Mäuler ein, und ſchwang ſich zu dem König in den Wagen; Idäus lenkte die Maul¬ thiere mit dem Leichnam. So fuhren ſie unbemerkt durch das Heer, und hatten bald das griechiſche Lager hinter ſich.
Hektors Leichnam in Troja.
Merkur begleitete den König bis an die Furth des Skamander. Dort ſchied er aus dem Wagen, und entflog zum hohen Olymp. Priamus und der Herold aber trie¬ ben ſeufzend und wehklagend die Roſſe mit dem Wagen des Königes, und die Maulthiere mit dem Leichnam in die Stadt. Es war früher Morgen, Alles lag noch im Schlummer, und Niemand ſah ſie herankommen; nur Kaſſandra hatte die Burg von Pergamus erſtiegen, und erſchaute von ferne ihren Vater im Wagenſitze ſtehend, den Herold mit dem Maulthierwagen, und in dieſem auf Gewanden ausgeſtreckt den Leichnam. Da begann ſie laut zu wehklagen, und rief, daß es in der ſtillen Stadt wiederhallte: „Schaut doch hin, ihr Troer und ihr Troe¬ rinnen, dort kommt ja Hektor, ach nur der todte Hektor! Habt ihr euch jemals des Lebenden erfreut, wenn er ſieg¬ reich aus der Feldſchlacht zurückkehrte, ſo begrüßet jetzt auch den Geſtorbenen!“ Auf ihren Ruf blieb kein Mann und kein Weib in der Veſte, denn aller Herzen durch¬ drang eine gränzenloſe Trauer. Am Thore begegneten
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Griechen es wüßten, ſo müßten deine Söhne daheim dich,
den Lebenden, mit dreimal größerem Löſegeld auskaufen!“
Der Greis erſchrack und weckte den Herold; Merkur ſelbſt
ſpannte ihnen Roſſe und Mäuler ein, und ſchwang ſich
zu dem König in den Wagen; Idäus lenkte die Maul¬
thiere mit dem Leichnam. So fuhren ſie unbemerkt durch
das Heer, und hatten bald das griechiſche Lager hinter ſich.
Hektors Leichnam in Troja.
Merkur begleitete den König bis an die Furth des
Skamander. Dort ſchied er aus dem Wagen, und entflog
zum hohen Olymp. Priamus und der Herold aber trie¬
ben ſeufzend und wehklagend die Roſſe mit dem Wagen
des Königes, und die Maulthiere mit dem Leichnam in
die Stadt. Es war früher Morgen, Alles lag noch im
Schlummer, und Niemand ſah ſie herankommen; nur
Kaſſandra hatte die Burg von Pergamus erſtiegen, und
erſchaute von ferne ihren Vater im Wagenſitze ſtehend,
den Herold mit dem Maulthierwagen, und in dieſem auf
Gewanden ausgeſtreckt den Leichnam. Da begann ſie
laut zu wehklagen, und rief, daß es in der ſtillen Stadt
wiederhallte: „Schaut doch hin, ihr Troer und ihr Troe¬
rinnen, dort kommt ja Hektor, ach nur der todte Hektor!
Habt ihr euch jemals des Lebenden erfreut, wenn er ſieg¬
reich aus der Feldſchlacht zurückkehrte, ſo begrüßet jetzt
auch den Geſtorbenen!“ Auf ihren Ruf blieb kein Mann
und kein Weib in der Veſte, denn aller Herzen durch¬
drang eine gränzenloſe Trauer. Am Thore begegneten
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/334>, abgerufen am 21.11.2024.
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