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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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zur Erde floß. Nun brüstete sich Memnon in eitler
Freude und rief: "Elender, der du so mitleidlos die Tro¬
janer erschlugest, jetzt steht dir ein Göttersohn entgegen,
dem du nicht gewachsen bist, denn Aurora, meine Mutter,
die Olympierin, ist mehr denn deine Mutter Thetis, die
sich allein unter den Scheusalen des Meeres gefällt!" Aber
Achilles lächelte nur und sprach: "Der Erfolg wird leh¬
ren, welcher von uns von edleren Eltern abstammt! Ich
fordre von dir jetzt Rache für den jungen Helden Antilochus,
wie ich einst an Hektor Rache genommen für meinen
Freund Patroklus!"

Damit faßte er seinen riesigen Speer mit beiden
Händen, und dasselbe that Memnon. So stürzten sie
auf einander los. Jupiter selbst machte sie in diesem
Augenblick größer, stärker und unermüdlicher als Menschen
sind, so daß kein Stoß des Einen den Andern fällte, und
sie so nah an einander kamen, daß Helmbusch an Helm¬
busch streifte. Vergebens suchten sie einander bald über
dem Schienbein, bald unter dem Panzer zu verwunden;
ihre Rüstungen klirrten; das Kampfgeschrei der Aethiopier,
Trojaner und Argiver stieg empor zum Himmel, der
Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, und während die
Führer kämpften, feierte unter ihren Kriegern das Ge¬
metzel nicht. Die Olympier, die von der Höhe herab zu¬
schauten, hatten ihre Freude an dem unentschiedenen
Kampfe, die einen an der Kraft des Peliden, die andern
an Memnons unbesiegtem Widerstande, je nachdem sie
dem Einen oder dem Andern verwandt oder befreundet
waren. Und bald wären die Götter unter einander dar¬
über in Zwietracht gerathen, wenn nicht Jupiter plötzlich
zwei der Parzen aufgerufen hätte und befohlen, daß die

zur Erde floß. Nun brüſtete ſich Memnon in eitler
Freude und rief: „Elender, der du ſo mitleidlos die Tro¬
janer erſchlugeſt, jetzt ſteht dir ein Götterſohn entgegen,
dem du nicht gewachſen biſt, denn Aurora, meine Mutter,
die Olympierin, iſt mehr denn deine Mutter Thetis, die
ſich allein unter den Scheuſalen des Meeres gefällt!“ Aber
Achilles lächelte nur und ſprach: „Der Erfolg wird leh¬
ren, welcher von uns von edleren Eltern abſtammt! Ich
fordre von dir jetzt Rache für den jungen Helden Antilochus,
wie ich einſt an Hektor Rache genommen für meinen
Freund Patroklus!“

Damit faßte er ſeinen rieſigen Speer mit beiden
Händen, und daſſelbe that Memnon. So ſtürzten ſie
auf einander los. Jupiter ſelbſt machte ſie in dieſem
Augenblick größer, ſtärker und unermüdlicher als Menſchen
ſind, ſo daß kein Stoß des Einen den Andern fällte, und
ſie ſo nah an einander kamen, daß Helmbuſch an Helm¬
buſch ſtreifte. Vergebens ſuchten ſie einander bald über
dem Schienbein, bald unter dem Panzer zu verwunden;
ihre Rüſtungen klirrten; das Kampfgeſchrei der Aethiopier,
Trojaner und Argiver ſtieg empor zum Himmel, der
Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, und während die
Führer kämpften, feierte unter ihren Kriegern das Ge¬
metzel nicht. Die Olympier, die von der Höhe herab zu¬
ſchauten, hatten ihre Freude an dem unentſchiedenen
Kampfe, die einen an der Kraft des Peliden, die andern
an Memnons unbeſiegtem Widerſtande, je nachdem ſie
dem Einen oder dem Andern verwandt oder befreundet
waren. Und bald wären die Götter unter einander dar¬
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[340/0362] zur Erde floß. Nun brüſtete ſich Memnon in eitler Freude und rief: „Elender, der du ſo mitleidlos die Tro¬ janer erſchlugeſt, jetzt ſteht dir ein Götterſohn entgegen, dem du nicht gewachſen biſt, denn Aurora, meine Mutter, die Olympierin, iſt mehr denn deine Mutter Thetis, die ſich allein unter den Scheuſalen des Meeres gefällt!“ Aber Achilles lächelte nur und ſprach: „Der Erfolg wird leh¬ ren, welcher von uns von edleren Eltern abſtammt! Ich fordre von dir jetzt Rache für den jungen Helden Antilochus, wie ich einſt an Hektor Rache genommen für meinen Freund Patroklus!“ Damit faßte er ſeinen rieſigen Speer mit beiden Händen, und daſſelbe that Memnon. So ſtürzten ſie auf einander los. Jupiter ſelbſt machte ſie in dieſem Augenblick größer, ſtärker und unermüdlicher als Menſchen ſind, ſo daß kein Stoß des Einen den Andern fällte, und ſie ſo nah an einander kamen, daß Helmbuſch an Helm¬ buſch ſtreifte. Vergebens ſuchten ſie einander bald über dem Schienbein, bald unter dem Panzer zu verwunden; ihre Rüſtungen klirrten; das Kampfgeſchrei der Aethiopier, Trojaner und Argiver ſtieg empor zum Himmel, der Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, und während die Führer kämpften, feierte unter ihren Kriegern das Ge¬ metzel nicht. Die Olympier, die von der Höhe herab zu¬ ſchauten, hatten ihre Freude an dem unentſchiedenen Kampfe, die einen an der Kraft des Peliden, die andern an Memnons unbeſiegtem Widerſtande, je nachdem ſie dem Einen oder dem Andern verwandt oder befreundet waren. Und bald wären die Götter unter einander dar¬ über in Zwietracht gerathen, wenn nicht Jupiter plötzlich zwei der Parzen aufgerufen hätte und befohlen, daß die

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/362>, abgerufen am 21.11.2024.