ich noch mein Vater sind zu so böser Kunst geboren wor¬ den. Gerne bin ich bereit, den Mann mit Gewalt zu fangen; nur erlaß mir die Arglist! Wie sollte auch der einzelne Mann, der dazu nur auf Einem Fuße stehen kann, uns, die Vielen, überwältigen?" "Mit seinen un¬ entfliehbaren Pfeilen," erwiederte Odysseus ruhig. "Ich weiß wohl, mein Sohn, daß dir die Gabe der Täuschung nicht eingepflanzt ist, und auch ich selbst, der ich von einem redlichen Vater stamme, war in der Jugend mit der Zunge langsam und rasch mit der Hand. Erst die Erfah¬ rung mußte mich belehren, daß die Welt weniger durch Thaten, als durch Worte gelenkt wird. Wenn du nun bedenkst, daß der Bogen des Herkules allein Troja zu bezwingen vermag, und du durch diese That den Ruhm der Klugheit wie der Tapferkeit davontragen, auch durch den Erfolg vollkommen gerechtfertigt erscheinen wirst, so weigerst du dich gewiß nicht länger der kurzen Trugworte!"
Neoptolemus gab den Gründen seines älteren Freun¬ des nach, und dieser entfernte sich nun, wie verabredet war. Auch dauerte es nicht lange, bis aus der Ferne der Schmerzensruf des leidenden Philoktetes sich hören ließ. Dieser hatte nämlich von Ferne das Schiff am hafenlosen Strande erblickt und kam auf Neoptolemus und seine Be¬ gleiter herzugeeilt. "Wehe mir," rief er ihnen zu, "wer seyd ihr, die ihr an dieser unwirthbaren Insel gelandet? Zwar erkenne ich an euch die geliebte Griechentracht; doch möchte ich auch den Laut eurer Sprache vernehmen. Be¬ bet vor meinem verwilderten Aussehen nicht zurück, be¬ dauert vielmehr mich unglücklichen, von allen Freunden verlassenen, gepeinigten Mann, und antwortet, wenn ihr anders nicht mit feindlichen Absichten erschienen seyd!"
ich noch mein Vater ſind zu ſo böſer Kunſt geboren wor¬ den. Gerne bin ich bereit, den Mann mit Gewalt zu fangen; nur erlaß mir die Argliſt! Wie ſollte auch der einzelne Mann, der dazu nur auf Einem Fuße ſtehen kann, uns, die Vielen, überwältigen?“ „Mit ſeinen un¬ entfliehbaren Pfeilen,“ erwiederte Odyſſeus ruhig. „Ich weiß wohl, mein Sohn, daß dir die Gabe der Täuſchung nicht eingepflanzt iſt, und auch ich ſelbſt, der ich von einem redlichen Vater ſtamme, war in der Jugend mit der Zunge langſam und raſch mit der Hand. Erſt die Erfah¬ rung mußte mich belehren, daß die Welt weniger durch Thaten, als durch Worte gelenkt wird. Wenn du nun bedenkſt, daß der Bogen des Herkules allein Troja zu bezwingen vermag, und du durch dieſe That den Ruhm der Klugheit wie der Tapferkeit davontragen, auch durch den Erfolg vollkommen gerechtfertigt erſcheinen wirſt, ſo weigerſt du dich gewiß nicht länger der kurzen Trugworte!“
Neoptolemus gab den Gründen ſeines älteren Freun¬ des nach, und dieſer entfernte ſich nun, wie verabredet war. Auch dauerte es nicht lange, bis aus der Ferne der Schmerzensruf des leidenden Philoktetes ſich hören ließ. Dieſer hatte nämlich von Ferne das Schiff am hafenloſen Strande erblickt und kam auf Neoptolemus und ſeine Be¬ gleiter herzugeeilt. „Wehe mir,“ rief er ihnen zu, „wer ſeyd ihr, die ihr an dieſer unwirthbaren Inſel gelandet? Zwar erkenne ich an euch die geliebte Griechentracht; doch möchte ich auch den Laut eurer Sprache vernehmen. Be¬ bet vor meinem verwilderten Ausſehen nicht zurück, be¬ dauert vielmehr mich unglücklichen, von allen Freunden verlaſſenen, gepeinigten Mann, und antwortet, wenn ihr anders nicht mit feindlichen Abſichten erſchienen ſeyd!“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0408"n="386"/>
ich noch mein Vater ſind zu ſo böſer Kunſt geboren wor¬<lb/>
den. Gerne bin ich bereit, den Mann mit Gewalt zu<lb/>
fangen; nur erlaß mir die Argliſt! Wie ſollte auch der<lb/>
einzelne Mann, der dazu nur auf Einem Fuße ſtehen<lb/>
kann, uns, die Vielen, überwältigen?“„Mit ſeinen un¬<lb/>
entfliehbaren Pfeilen,“ erwiederte Odyſſeus ruhig. „Ich<lb/>
weiß wohl, mein Sohn, daß dir die Gabe der Täuſchung<lb/>
nicht eingepflanzt iſt, und auch ich ſelbſt, der ich von einem<lb/>
redlichen Vater ſtamme, war in der Jugend mit der<lb/>
Zunge langſam und raſch mit der Hand. Erſt die Erfah¬<lb/>
rung mußte mich belehren, daß die Welt weniger durch<lb/>
Thaten, als durch Worte gelenkt wird. Wenn du nun<lb/>
bedenkſt, daß der Bogen des Herkules allein Troja zu<lb/>
bezwingen vermag, und du durch dieſe That den Ruhm<lb/>
der Klugheit wie der Tapferkeit davontragen, auch durch<lb/>
den Erfolg vollkommen gerechtfertigt erſcheinen wirſt, ſo<lb/>
weigerſt du dich gewiß nicht länger der kurzen Trugworte!“</p><lb/><p>Neoptolemus gab den Gründen ſeines älteren Freun¬<lb/>
des nach, und dieſer entfernte ſich nun, wie verabredet<lb/>
war. Auch dauerte es nicht lange, bis aus der Ferne der<lb/>
Schmerzensruf des leidenden Philoktetes ſich hören ließ.<lb/>
Dieſer hatte nämlich von Ferne das Schiff am hafenloſen<lb/>
Strande erblickt und kam auf Neoptolemus und ſeine Be¬<lb/>
gleiter herzugeeilt. „Wehe mir,“ rief er ihnen zu, „wer<lb/>ſeyd ihr, die ihr an dieſer unwirthbaren Inſel gelandet?<lb/>
Zwar erkenne ich an euch die geliebte Griechentracht; doch<lb/>
möchte ich auch den Laut eurer Sprache vernehmen. Be¬<lb/>
bet vor meinem verwilderten Ausſehen nicht zurück, be¬<lb/>
dauert vielmehr mich unglücklichen, von allen Freunden<lb/>
verlaſſenen, gepeinigten Mann, und antwortet, wenn ihr<lb/>
anders nicht mit feindlichen Abſichten erſchienen ſeyd!“<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[386/0408]
ich noch mein Vater ſind zu ſo böſer Kunſt geboren wor¬
den. Gerne bin ich bereit, den Mann mit Gewalt zu
fangen; nur erlaß mir die Argliſt! Wie ſollte auch der
einzelne Mann, der dazu nur auf Einem Fuße ſtehen
kann, uns, die Vielen, überwältigen?“ „Mit ſeinen un¬
entfliehbaren Pfeilen,“ erwiederte Odyſſeus ruhig. „Ich
weiß wohl, mein Sohn, daß dir die Gabe der Täuſchung
nicht eingepflanzt iſt, und auch ich ſelbſt, der ich von einem
redlichen Vater ſtamme, war in der Jugend mit der
Zunge langſam und raſch mit der Hand. Erſt die Erfah¬
rung mußte mich belehren, daß die Welt weniger durch
Thaten, als durch Worte gelenkt wird. Wenn du nun
bedenkſt, daß der Bogen des Herkules allein Troja zu
bezwingen vermag, und du durch dieſe That den Ruhm
der Klugheit wie der Tapferkeit davontragen, auch durch
den Erfolg vollkommen gerechtfertigt erſcheinen wirſt, ſo
weigerſt du dich gewiß nicht länger der kurzen Trugworte!“
Neoptolemus gab den Gründen ſeines älteren Freun¬
des nach, und dieſer entfernte ſich nun, wie verabredet
war. Auch dauerte es nicht lange, bis aus der Ferne der
Schmerzensruf des leidenden Philoktetes ſich hören ließ.
Dieſer hatte nämlich von Ferne das Schiff am hafenloſen
Strande erblickt und kam auf Neoptolemus und ſeine Be¬
gleiter herzugeeilt. „Wehe mir,“ rief er ihnen zu, „wer
ſeyd ihr, die ihr an dieſer unwirthbaren Inſel gelandet?
Zwar erkenne ich an euch die geliebte Griechentracht; doch
möchte ich auch den Laut eurer Sprache vernehmen. Be¬
bet vor meinem verwilderten Ausſehen nicht zurück, be¬
dauert vielmehr mich unglücklichen, von allen Freunden
verlaſſenen, gepeinigten Mann, und antwortet, wenn ihr
anders nicht mit feindlichen Abſichten erſchienen ſeyd!“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/408>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.