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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Griechen glücklicher. Dort säuberte der kühne Lokrer
Ajax die Zinnen allmählig von Vertheidigern, indem er
bald mit dem Pfeil einen wegschoß, bald mit dem Speer
einen niederstieß. Und jetzt ersah sich sein tapfrer Waffen¬
gefährte und Landsmann Alcimedon eine ganz leer gewor¬
dene Stelle der Mauer, legte eine Sturmleiter an und
stieg, auf sein muthiges Herz und seine Jugend vertrauend,
voll Kriegslust mit behendem Fuße die Stufen empor,
den Schild über dem Haupte haltend. So gedachte er
den Seinigen den Weg in die Stadt zu bahnen. Aber
Aeneas hatte aus der Ferne sein Beginnen beobachtet,
und als Jener nun eben über die Mauer hinweg sah und
zum ersten und letztenmal einen Blick in das Innere der
Stadt warf, traf ihn ein Stein, aus der gewaltigen Hand
des trojanischen Helden geschleudert, ans Haupt; die Leiter
ward zertrümmert unter der Wucht des Stürzenden: wie
ein Pfeil von der Sehne geschnellt, wirbelte er durch die
Luft und hauchte die Seele aus, noch ehe er unten am
Boden ankam. Die Lokrer seufzten laut auf, als sie den
Zermalmten auf der Erde liegen sahen. Jetzt faßte Phi¬
loktetes den Sohn des Anchises, der wie ein reißendes
Thier die Mauern entlang tobte, sich ins Auge und rich¬
tete sein gepriesenes Geschoß auf ihn. Auch verfehlte er
sein Ziel nicht, ritzte jedoch nur ein wenig das Leder des
Schildes und traf dann den Trojaner Menon, der von
der Mauer herabfiel, wie ein Wild, das des Jägers Pfeil
erreicht hat. Aeneas zertrümmerte dafür dem Toxächmes,
einem wackern Gefährten des Philoktetes, Haupt und Kno¬
chen mit einem Steinwurfe. Grimmig blickte Philoktetes zu
dem feindlichen Helden empor und rief: "Aeneas! du
glaubst der Tapferste zu seyn, wenn du, wie schwache

Schwab, das klass. Alterthum. II. 26

Griechen glücklicher. Dort ſäuberte der kühne Lokrer
Ajax die Zinnen allmählig von Vertheidigern, indem er
bald mit dem Pfeil einen wegſchoß, bald mit dem Speer
einen niederſtieß. Und jetzt erſah ſich ſein tapfrer Waffen¬
gefährte und Landsmann Alcimedon eine ganz leer gewor¬
dene Stelle der Mauer, legte eine Sturmleiter an und
ſtieg, auf ſein muthiges Herz und ſeine Jugend vertrauend,
voll Kriegsluſt mit behendem Fuße die Stufen empor,
den Schild über dem Haupte haltend. So gedachte er
den Seinigen den Weg in die Stadt zu bahnen. Aber
Aeneas hatte aus der Ferne ſein Beginnen beobachtet,
und als Jener nun eben über die Mauer hinweg ſah und
zum erſten und letztenmal einen Blick in das Innere der
Stadt warf, traf ihn ein Stein, aus der gewaltigen Hand
des trojaniſchen Helden geſchleudert, ans Haupt; die Leiter
ward zertrümmert unter der Wucht des Stürzenden: wie
ein Pfeil von der Sehne geſchnellt, wirbelte er durch die
Luft und hauchte die Seele aus, noch ehe er unten am
Boden ankam. Die Lokrer ſeufzten laut auf, als ſie den
Zermalmten auf der Erde liegen ſahen. Jetzt faßte Phi¬
loktetes den Sohn des Anchiſes, der wie ein reißendes
Thier die Mauern entlang tobte, ſich ins Auge und rich¬
tete ſein geprieſenes Geſchoß auf ihn. Auch verfehlte er
ſein Ziel nicht, ritzte jedoch nur ein wenig das Leder des
Schildes und traf dann den Trojaner Menon, der von
der Mauer herabfiel, wie ein Wild, das des Jägers Pfeil
erreicht hat. Aeneas zertrümmerte dafür dem Toxächmes,
einem wackern Gefährten des Philoktetes, Haupt und Kno¬
chen mit einem Steinwurfe. Grimmig blickte Philoktetes zu
dem feindlichen Helden empor und rief: „Aeneas! du
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[401/0423] Griechen glücklicher. Dort ſäuberte der kühne Lokrer Ajax die Zinnen allmählig von Vertheidigern, indem er bald mit dem Pfeil einen wegſchoß, bald mit dem Speer einen niederſtieß. Und jetzt erſah ſich ſein tapfrer Waffen¬ gefährte und Landsmann Alcimedon eine ganz leer gewor¬ dene Stelle der Mauer, legte eine Sturmleiter an und ſtieg, auf ſein muthiges Herz und ſeine Jugend vertrauend, voll Kriegsluſt mit behendem Fuße die Stufen empor, den Schild über dem Haupte haltend. So gedachte er den Seinigen den Weg in die Stadt zu bahnen. Aber Aeneas hatte aus der Ferne ſein Beginnen beobachtet, und als Jener nun eben über die Mauer hinweg ſah und zum erſten und letztenmal einen Blick in das Innere der Stadt warf, traf ihn ein Stein, aus der gewaltigen Hand des trojaniſchen Helden geſchleudert, ans Haupt; die Leiter ward zertrümmert unter der Wucht des Stürzenden: wie ein Pfeil von der Sehne geſchnellt, wirbelte er durch die Luft und hauchte die Seele aus, noch ehe er unten am Boden ankam. Die Lokrer ſeufzten laut auf, als ſie den Zermalmten auf der Erde liegen ſahen. Jetzt faßte Phi¬ loktetes den Sohn des Anchiſes, der wie ein reißendes Thier die Mauern entlang tobte, ſich ins Auge und rich¬ tete ſein geprieſenes Geſchoß auf ihn. Auch verfehlte er ſein Ziel nicht, ritzte jedoch nur ein wenig das Leder des Schildes und traf dann den Trojaner Menon, der von der Mauer herabfiel, wie ein Wild, das des Jägers Pfeil erreicht hat. Aeneas zertrümmerte dafür dem Toxächmes, einem wackern Gefährten des Philoktetes, Haupt und Kno¬ chen mit einem Steinwurfe. Grimmig blickte Philoktetes zu dem feindlichen Helden empor und rief: „Aeneas! du glaubſt der Tapferſte zu ſeyn, wenn du, wie ſchwache Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 26

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/423>, abgerufen am 22.11.2024.