umfassend, rief er mit bebender Stimme: "Wer du auch seyest von den Achivern; laß von deinem Zorne! Kann ja dem Manne nur der Sieg über den Jüngeren, Kräftigeren Ruhm bringen! Darum, so gewiß du selbst dereinst ein Greis werden willst, schone des Greisen!" Einen Augen¬ blick hielt Diomedes sein Schwert zurück und besann sich, dann aber stieß er es dem Gegner in die Kehle, mit den Worten: "Freilich hoffe auch ich mich des Alters zu freuen; jetzt aber brauche ich meine Kraft und sende alle meine Feinde zum Hades!" So ging er hin und erschlug noch einen nach dem andern. Auf gleiche Weise wütheten Ajax der Lokrer und Idomeneus. Neoptolemus aber suchte sich die Söhne des Priamus aus und tödtete ihrer drei, dazu den Agenor, der einst mit seinem Vater Achilles den Kampf gewagt hatte. Endlich stieß er auf den König Priamus selbst, der an einem unter freiem Himmel errichteten Al¬ tare Jupiters in Gebeten lag. Gierig zückte Neoptolemus sein Schwert und Priamus blickte ihm furchtlos ins Auge: "Tödte mich," rief er, "Kind des tapfern Achilles; nach¬ dem ich so vieles ertragen, und fast alle meine Kinder sterben sah, wie möchte ich länger das Licht der Sonne schauen? O hätte mich schon dein Vater getödtet! So labe denn du dein muthiges Herz an mir, und entrücke mich allem Jammer!" -- "Greis," erwiederte Neoptole¬ mus, "du ermahnest mich zu dem, wozu mich mein eigenes Herz antreibt!" Und damit trennte er leicht das Haupt des ergrauten Greises vom Rumpfe, wie ein Schnitter in der Sommerhitze die Aehre auf dem trockenen Saatfelde abmäht: es rollte zu Boden weit hin und der Rumpf lag mit andern trojanischen Leichen vermischt. Grausamer noch verfuhren die gemeinen Krieger des griechischen
umfaſſend, rief er mit bebender Stimme: „Wer du auch ſeyeſt von den Achivern; laß von deinem Zorne! Kann ja dem Manne nur der Sieg über den Jüngeren, Kräftigeren Ruhm bringen! Darum, ſo gewiß du ſelbſt dereinſt ein Greis werden willſt, ſchone des Greiſen!“ Einen Augen¬ blick hielt Diomedes ſein Schwert zurück und beſann ſich, dann aber ſtieß er es dem Gegner in die Kehle, mit den Worten: „Freilich hoffe auch ich mich des Alters zu freuen; jetzt aber brauche ich meine Kraft und ſende alle meine Feinde zum Hades!“ So ging er hin und erſchlug noch einen nach dem andern. Auf gleiche Weiſe wütheten Ajax der Lokrer und Idomeneus. Neoptolemus aber ſuchte ſich die Söhne des Priamus aus und tödtete ihrer drei, dazu den Agenor, der einſt mit ſeinem Vater Achilles den Kampf gewagt hatte. Endlich ſtieß er auf den König Priamus ſelbſt, der an einem unter freiem Himmel errichteten Al¬ tare Jupiters in Gebeten lag. Gierig zückte Neoptolemus ſein Schwert und Priamus blickte ihm furchtlos ins Auge: „Tödte mich,“ rief er, „Kind des tapfern Achilles; nach¬ dem ich ſo vieles ertragen, und faſt alle meine Kinder ſterben ſah, wie möchte ich länger das Licht der Sonne ſchauen? O hätte mich ſchon dein Vater getödtet! So labe denn du dein muthiges Herz an mir, und entrücke mich allem Jammer!“ — „Greis,” erwiederte Neoptole¬ mus, „du ermahneſt mich zu dem, wozu mich mein eigenes Herz antreibt!“ Und damit trennte er leicht das Haupt des ergrauten Greiſes vom Rumpfe, wie ein Schnitter in der Sommerhitze die Aehre auf dem trockenen Saatfelde abmäht: es rollte zu Boden weit hin und der Rumpf lag mit andern trojaniſchen Leichen vermiſcht. Grauſamer noch verfuhren die gemeinen Krieger des griechiſchen
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umfaſſend, rief er mit bebender Stimme: „Wer du auch
ſeyeſt von den Achivern; laß von deinem Zorne! Kann ja
dem Manne nur der Sieg über den Jüngeren, Kräftigeren
Ruhm bringen! Darum, ſo gewiß du ſelbſt dereinſt ein
Greis werden willſt, ſchone des Greiſen!“ Einen Augen¬
blick hielt Diomedes ſein Schwert zurück und beſann ſich,
dann aber ſtieß er es dem Gegner in die Kehle, mit den
Worten: „Freilich hoffe auch ich mich des Alters zu freuen;
jetzt aber brauche ich meine Kraft und ſende alle meine
Feinde zum Hades!“ So ging er hin und erſchlug noch
einen nach dem andern. Auf gleiche Weiſe wütheten Ajax
der Lokrer und Idomeneus. Neoptolemus aber ſuchte ſich
die Söhne des Priamus aus und tödtete ihrer drei, dazu
den Agenor, der einſt mit ſeinem Vater Achilles den Kampf
gewagt hatte. Endlich ſtieß er auf den König Priamus
ſelbſt, der an einem unter freiem Himmel errichteten Al¬
tare Jupiters in Gebeten lag. Gierig zückte Neoptolemus
ſein Schwert und Priamus blickte ihm furchtlos ins Auge:
„Tödte mich,“ rief er, „Kind des tapfern Achilles; nach¬
dem ich ſo vieles ertragen, und faſt alle meine Kinder
ſterben ſah, wie möchte ich länger das Licht der Sonne
ſchauen? O hätte mich ſchon dein Vater getödtet! So
labe denn du dein muthiges Herz an mir, und entrücke
mich allem Jammer!“ — „Greis,” erwiederte Neoptole¬
mus, „du ermahneſt mich zu dem, wozu mich mein eigenes
Herz antreibt!“ Und damit trennte er leicht das Haupt
des ergrauten Greiſes vom Rumpfe, wie ein Schnitter in
der Sommerhitze die Aehre auf dem trockenen Saatfelde
abmäht: es rollte zu Boden weit hin und der Rumpf
lag mit andern trojaniſchen Leichen vermiſcht. Grauſamer
noch verfuhren die gemeinen Krieger des griechiſchen
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/442>, abgerufen am 22.11.2024.
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