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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Armen des Ajax entrissen hatte; Hektors Gattin, Andro¬
mache, wurde vom Sohne des Achilles, Neoptolemus,
fortgeführt; Hekuba, die Königin, die mühselig wandelte
und unter lautem Jammer ihr graues, mit Asche bestreu¬
tes Haar ausraufte, schleppte Odysseus in die Gefangen¬
schaft. Unzählige Frauen der Trojaner folgten, junge
und alte, hinter ihnen Mädchen und Kinder, und vermischt
gingen die Mägde mit den Fürstentöchtern: den ganzen
Weg entlang hallte Jammer und Schluchzen. Nur Helena
stimmte nicht mit ein in die Klage, denn tiefes Schaam¬
gefühl hielt sie ab; sie heftete die dunkeln Augen auf den
Boden, und ihre Wangen färbte ein fliegendes Roth.
Im Innersten ihres Busens aber bebte ihr das Herz und
eine entsetzliche Furcht ergriff sie, wenn sie an das Schick¬
sal dachte, das ihrer bei den Schiffen wartete; Todesblässe
überzog ihre eben noch purpurrothen Wangen, schnell zog
sie den dichten Schleier über das Haupt und wandelte zit¬
ternd an der Hand des Gatten.

Aber als sie bei den Schiffen angelangt waren, staun¬
ten alle Danaer über die liebliche Schönheit der untadel¬
haften Gestalt, und sagten bei sich selbst, daß es wohl
der Mühe werth gewesen sey, dem Völkerhirten Menelans
um eines solchen Kampfpreises willen vor Troja zu folgen,
und dort zehnjährige Mühseligkeiten und Gefahren auszu¬
halten. Und Keinem kam in den Sinn, Hand an das
schöne Weib zu legen: sie ließen ihrem Führer den fried¬
lichen Besitz der Gattin, und das Herz des Fürsten Me¬
nelaus selbst hatte Aphrodite längst zur Verzeihung gestimmt.

Bei den Schiffen herrschte jauchzende Lust: alle
Helden saßen beim fröhlichen Mahle umher, in der
Mitte saß ein des Cytherspiels kundiger Sänger, und rief

Armen des Ajax entriſſen hatte; Hektors Gattin, Andro¬
mache, wurde vom Sohne des Achilles, Neoptolemus,
fortgeführt; Hekuba, die Königin, die mühſelig wandelte
und unter lautem Jammer ihr graues, mit Aſche beſtreu¬
tes Haar ausraufte, ſchleppte Odyſſeus in die Gefangen¬
ſchaft. Unzählige Frauen der Trojaner folgten, junge
und alte, hinter ihnen Mädchen und Kinder, und vermiſcht
gingen die Mägde mit den Fürſtentöchtern: den ganzen
Weg entlang hallte Jammer und Schluchzen. Nur Helena
ſtimmte nicht mit ein in die Klage, denn tiefes Schaam¬
gefühl hielt ſie ab; ſie heftete die dunkeln Augen auf den
Boden, und ihre Wangen färbte ein fliegendes Roth.
Im Innerſten ihres Buſens aber bebte ihr das Herz und
eine entſetzliche Furcht ergriff ſie, wenn ſie an das Schick¬
ſal dachte, das ihrer bei den Schiffen wartete; Todesbläſſe
überzog ihre eben noch purpurrothen Wangen, ſchnell zog
ſie den dichten Schleier über das Haupt und wandelte zit¬
ternd an der Hand des Gatten.

Aber als ſie bei den Schiffen angelangt waren, ſtaun¬
ten alle Danaer über die liebliche Schönheit der untadel¬
haften Geſtalt, und ſagten bei ſich ſelbſt, daß es wohl
der Mühe werth geweſen ſey, dem Völkerhirten Menelans
um eines ſolchen Kampfpreiſes willen vor Troja zu folgen,
und dort zehnjährige Mühſeligkeiten und Gefahren auszu¬
halten. Und Keinem kam in den Sinn, Hand an das
ſchöne Weib zu legen: ſie ließen ihrem Führer den fried¬
lichen Beſitz der Gattin, und das Herz des Fürſten Me¬
nelaus ſelbſt hatte Aphrodite längſt zur Verzeihung geſtimmt.

Bei den Schiffen herrſchte jauchzende Luſt: alle
Helden ſaßen beim fröhlichen Mahle umher, in der
Mitte ſaß ein des Cytherſpiels kundiger Sänger, und rief

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[425/0447] Armen des Ajax entriſſen hatte; Hektors Gattin, Andro¬ mache, wurde vom Sohne des Achilles, Neoptolemus, fortgeführt; Hekuba, die Königin, die mühſelig wandelte und unter lautem Jammer ihr graues, mit Aſche beſtreu¬ tes Haar ausraufte, ſchleppte Odyſſeus in die Gefangen¬ ſchaft. Unzählige Frauen der Trojaner folgten, junge und alte, hinter ihnen Mädchen und Kinder, und vermiſcht gingen die Mägde mit den Fürſtentöchtern: den ganzen Weg entlang hallte Jammer und Schluchzen. Nur Helena ſtimmte nicht mit ein in die Klage, denn tiefes Schaam¬ gefühl hielt ſie ab; ſie heftete die dunkeln Augen auf den Boden, und ihre Wangen färbte ein fliegendes Roth. Im Innerſten ihres Buſens aber bebte ihr das Herz und eine entſetzliche Furcht ergriff ſie, wenn ſie an das Schick¬ ſal dachte, das ihrer bei den Schiffen wartete; Todesbläſſe überzog ihre eben noch purpurrothen Wangen, ſchnell zog ſie den dichten Schleier über das Haupt und wandelte zit¬ ternd an der Hand des Gatten. Aber als ſie bei den Schiffen angelangt waren, ſtaun¬ ten alle Danaer über die liebliche Schönheit der untadel¬ haften Geſtalt, und ſagten bei ſich ſelbſt, daß es wohl der Mühe werth geweſen ſey, dem Völkerhirten Menelans um eines ſolchen Kampfpreiſes willen vor Troja zu folgen, und dort zehnjährige Mühſeligkeiten und Gefahren auszu¬ halten. Und Keinem kam in den Sinn, Hand an das ſchöne Weib zu legen: ſie ließen ihrem Führer den fried¬ lichen Beſitz der Gattin, und das Herz des Fürſten Me¬ nelaus ſelbſt hatte Aphrodite längſt zur Verzeihung geſtimmt. Bei den Schiffen herrſchte jauchzende Luſt: alle Helden ſaßen beim fröhlichen Mahle umher, in der Mitte ſaß ein des Cytherſpiels kundiger Sänger, und rief

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/447>, abgerufen am 22.11.2024.