nicht auch du für ein Weib, noch tödte Jemand um mei¬ netwillen. Nein, laß mich Griechenland retten, wenn ich es vermag!" -- "Erhabene Seele," rief der Pelide, "thue was dir gefällt, ich aber eile mit diesen meinen Waffen zum Altar, deinen Tod zu hindern. In deiner Unbeson¬ nenheit darfst du mir nicht sterben, vielleicht nimmst du mich noch beim Worte, wenn du den Mordstahl auf dei¬ nen Nacken gezückt siehst." So eilte er der Jungfrau voran, die bald darauf, der Mutter alle Klage verbietend und ihr den kleinen Bruder Orestes auf die Arme legend, im beseligenden Bewußtseyn, das Vaterland zu retten, dem Tode freudig entgegen ging. Die Mutter warf sich im Zelt auf ihr Angesicht und vermochte nicht, ihr zu folgen.
Unterdessen versammelte sich die ganze griechische Hee¬ resmacht in dem blumenreichen Haine der Göttin Diana vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet und neben ihm stand der Seher und Priester Kalchas. Ein Ruf des Staunens und Mitleids ging durch das ganze Heer, als man Iphigenien, von ihren treuen Dienerinnen begleitet, den Hain betreten und auf den Vater Agamemnon zuwan¬ deln sah. Dieser seufzte laut auf, wandte sein Angesicht zurück und verbarg einen Thränenstrom in sein Gewand. Die Jungfrau aber stellte sich dem Vater zur Seite und sprach: "Lieber Vater, siehe, hier bin ich schon! Vor der Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der Göt¬ terspruch so gebeut, den Führern des Heeres zum Opfer fürs Vaterland. Mich freut es, wenn ihr glücklich seyd und mit Siegeslohn zur Heimat wiederkehrt. Berühre mich drum auch kein Argiver, muthig und still will ich den Nacken dem Opferstahle bieten!"
nicht auch du für ein Weib, noch tödte Jemand um mei¬ netwillen. Nein, laß mich Griechenland retten, wenn ich es vermag!“ — „Erhabene Seele,“ rief der Pelide, „thue was dir gefällt, ich aber eile mit dieſen meinen Waffen zum Altar, deinen Tod zu hindern. In deiner Unbeſon¬ nenheit darfſt du mir nicht ſterben, vielleicht nimmſt du mich noch beim Worte, wenn du den Mordſtahl auf dei¬ nen Nacken gezückt ſiehſt.“ So eilte er der Jungfrau voran, die bald darauf, der Mutter alle Klage verbietend und ihr den kleinen Bruder Oreſtes auf die Arme legend, im beſeligenden Bewußtſeyn, das Vaterland zu retten, dem Tode freudig entgegen ging. Die Mutter warf ſich im Zelt auf ihr Angeſicht und vermochte nicht, ihr zu folgen.
Unterdeſſen verſammelte ſich die ganze griechiſche Hee¬ resmacht in dem blumenreichen Haine der Göttin Diana vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet und neben ihm ſtand der Seher und Prieſter Kalchas. Ein Ruf des Staunens und Mitleids ging durch das ganze Heer, als man Iphigenien, von ihren treuen Dienerinnen begleitet, den Hain betreten und auf den Vater Agamemnon zuwan¬ deln ſah. Dieſer ſeufzte laut auf, wandte ſein Angeſicht zurück und verbarg einen Thränenſtrom in ſein Gewand. Die Jungfrau aber ſtellte ſich dem Vater zur Seite und ſprach: „Lieber Vater, ſiehe, hier bin ich ſchon! Vor der Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der Göt¬ terſpruch ſo gebeut, den Führern des Heeres zum Opfer fürs Vaterland. Mich freut es, wenn ihr glücklich ſeyd und mit Siegeslohn zur Heimat wiederkehrt. Berühre mich drum auch kein Argiver, muthig und ſtill will ich den Nacken dem Opferſtahle bieten!“
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nicht auch du für ein Weib, noch tödte Jemand um mei¬
netwillen. Nein, laß mich Griechenland retten, wenn ich
es vermag!“ — „Erhabene Seele,“ rief der Pelide, „thue
was dir gefällt, ich aber eile mit dieſen meinen Waffen
zum Altar, deinen Tod zu hindern. In deiner Unbeſon¬
nenheit darfſt du mir nicht ſterben, vielleicht nimmſt du
mich noch beim Worte, wenn du den Mordſtahl auf dei¬
nen Nacken gezückt ſiehſt.“ So eilte er der Jungfrau
voran, die bald darauf, der Mutter alle Klage verbietend
und ihr den kleinen Bruder Oreſtes auf die Arme legend,
im beſeligenden Bewußtſeyn, das Vaterland zu retten,
dem Tode freudig entgegen ging. Die Mutter warf ſich
im Zelt auf ihr Angeſicht und vermochte nicht, ihr zu
folgen.
Unterdeſſen verſammelte ſich die ganze griechiſche Hee¬
resmacht in dem blumenreichen Haine der Göttin Diana
vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet und neben
ihm ſtand der Seher und Prieſter Kalchas. Ein Ruf des
Staunens und Mitleids ging durch das ganze Heer, als
man Iphigenien, von ihren treuen Dienerinnen begleitet,
den Hain betreten und auf den Vater Agamemnon zuwan¬
deln ſah. Dieſer ſeufzte laut auf, wandte ſein Angeſicht
zurück und verbarg einen Thränenſtrom in ſein Gewand.
Die Jungfrau aber ſtellte ſich dem Vater zur Seite und
ſprach: „Lieber Vater, ſiehe, hier bin ich ſchon! Vor der
Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der Göt¬
terſpruch ſo gebeut, den Führern des Heeres zum Opfer
fürs Vaterland. Mich freut es, wenn ihr glücklich ſeyd
und mit Siegeslohn zur Heimat wiederkehrt. Berühre
mich drum auch kein Argiver, muthig und ſtill will ich den
Nacken dem Opferſtahle bieten!“
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/65>, abgerufen am 24.11.2024.
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