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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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mich, wie sie mir anfangs gelobt hatte, zur Heimath
zu entsenden. Die Zauberin antwortete: "Du hast recht,
Odysseus; es geziemt mir nicht, dich länger mit Zwang
bei mir zu halten, aber bevor du heim kommst, müßt
ihr doch noch einen Umweg machen. Ihr müßt das
Reich des Hades oder Pluto, und der Persephone oder
Proserpina, das Schattenreich besuchen, und die Seele
des blinden Greisen, des thebanischen Propheten Tiresias
um die Zukunft befragen; denn diesem ist auch im Tode
noch sein voller Geist und die Sehergabe durch Pro¬
serpina's Gunst verblieben; die Seelen der andern Todten
sind alle nur wandelnden Schatten gleich."

Als ich diesen Beschluß vernahm, fing ich zu wei¬
nen und zu jammern an; mir graute vor der Behausung
der Todten und ich fragte, wer mich denn geleiten sollte,
denn eine Schifffahrt in die Unterwelt hat noch kein Sterb¬
licher bei Leibes Leben unternommen. "Laß dich die
Sorge um das Geleite deines Schiffes nicht bekümmern,"
antwortete mir die Göttin, "richte nur getrost den Mast
in die Höhe, und spanne die Segel aus! Der Nordwind
wird euch schon hintreiben; bist du einmal am Gestade
des Oceanus, des Stromes, der die Erde umgürtet, so
landest du an einem niedrigen Ufer, wo du Erlen, Pap¬
peln und Weidenbäume beisammen erblickst. Dieß ist der
Hayn Persephone's; dort ist auch der Eingang in die
Unterwelt. Hier, in einem Thale bei einem Felsen, wo
die schwarzen Ströme Pyriphlegeton und Kocytus, der
letztere ein Arm des Styx, sich in den Acheron oder die
Unterwelt stürzen, wirst du eine Kluft finden, durch welche
der Weg in das Schattenreich geht. Da gräbst du
eine Grube und bringst den abgeschiedenen Seelen ein

mich, wie ſie mir anfangs gelobt hatte, zur Heimath
zu entſenden. Die Zauberin antwortete: „Du haſt recht,
Odyſſeus; es geziemt mir nicht, dich länger mit Zwang
bei mir zu halten, aber bevor du heim kommſt, müßt
ihr doch noch einen Umweg machen. Ihr müßt das
Reich des Hades oder Pluto, und der Perſephone oder
Proſerpina, das Schattenreich beſuchen, und die Seele
des blinden Greiſen, des thebaniſchen Propheten Tireſias
um die Zukunft befragen; denn dieſem iſt auch im Tode
noch ſein voller Geiſt und die Sehergabe durch Pro¬
ſerpina's Gunſt verblieben; die Seelen der andern Todten
ſind alle nur wandelnden Schatten gleich.“

Als ich dieſen Beſchluß vernahm, fing ich zu wei¬
nen und zu jammern an; mir graute vor der Behauſung
der Todten und ich fragte, wer mich denn geleiten ſollte,
denn eine Schifffahrt in die Unterwelt hat noch kein Sterb¬
licher bei Leibes Leben unternommen. „Laß dich die
Sorge um das Geleite deines Schiffes nicht bekümmern,“
antwortete mir die Göttin, „richte nur getroſt den Maſt
in die Höhe, und ſpanne die Segel aus! Der Nordwind
wird euch ſchon hintreiben; biſt du einmal am Geſtade
des Oceanus, des Stromes, der die Erde umgürtet, ſo
landeſt du an einem niedrigen Ufer, wo du Erlen, Pap¬
peln und Weidenbäume beiſammen erblickſt. Dieß iſt der
Hayn Perſephone's; dort iſt auch der Eingang in die
Unterwelt. Hier, in einem Thale bei einem Felſen, wo
die ſchwarzen Ströme Pyriphlegeton und Kocytus, der
letztere ein Arm des Styx, ſich in den Acheron oder die
Unterwelt ſtürzen, wirſt du eine Kluft finden, durch welche
der Weg in das Schattenreich geht. Da gräbſt du
eine Grube und bringſt den abgeſchiedenen Seelen ein

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[150/0172] mich, wie ſie mir anfangs gelobt hatte, zur Heimath zu entſenden. Die Zauberin antwortete: „Du haſt recht, Odyſſeus; es geziemt mir nicht, dich länger mit Zwang bei mir zu halten, aber bevor du heim kommſt, müßt ihr doch noch einen Umweg machen. Ihr müßt das Reich des Hades oder Pluto, und der Perſephone oder Proſerpina, das Schattenreich beſuchen, und die Seele des blinden Greiſen, des thebaniſchen Propheten Tireſias um die Zukunft befragen; denn dieſem iſt auch im Tode noch ſein voller Geiſt und die Sehergabe durch Pro¬ ſerpina's Gunſt verblieben; die Seelen der andern Todten ſind alle nur wandelnden Schatten gleich.“ Als ich dieſen Beſchluß vernahm, fing ich zu wei¬ nen und zu jammern an; mir graute vor der Behauſung der Todten und ich fragte, wer mich denn geleiten ſollte, denn eine Schifffahrt in die Unterwelt hat noch kein Sterb¬ licher bei Leibes Leben unternommen. „Laß dich die Sorge um das Geleite deines Schiffes nicht bekümmern,“ antwortete mir die Göttin, „richte nur getroſt den Maſt in die Höhe, und ſpanne die Segel aus! Der Nordwind wird euch ſchon hintreiben; biſt du einmal am Geſtade des Oceanus, des Stromes, der die Erde umgürtet, ſo landeſt du an einem niedrigen Ufer, wo du Erlen, Pap¬ peln und Weidenbäume beiſammen erblickſt. Dieß iſt der Hayn Perſephone's; dort iſt auch der Eingang in die Unterwelt. Hier, in einem Thale bei einem Felſen, wo die ſchwarzen Ströme Pyriphlegeton und Kocytus, der letztere ein Arm des Styx, ſich in den Acheron oder die Unterwelt ſtürzen, wirſt du eine Kluft finden, durch welche der Weg in das Schattenreich geht. Da gräbſt du eine Grube und bringſt den abgeſchiedenen Seelen ein

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/172>, abgerufen am 29.04.2024.