mich seiner noch wohl, obgleich ich damals noch ein kleiner Knabe war, und kaum reden konnte!" So sprach Antinous, im Herzen aber dachte er sich die Bogensehne schon gespannt, und den Pfeil durch die Aexte hindurch¬ geflogen. Ihm aber war der erste Pfeil aus der Hand des Odysseus beschieden.
Jetzo stand Telemach auf und sprach: "Fürwahr Jupiter hat mir meinen Verstand genommen! Meine Mutter erklärt sich bereit, dieses Haus zu verlassen und einem Freier zu folgen, und ich lache dazu. Wohlan, ihr Freier, ihr waget den Wettkampf um ein Weib, wie in ganz Griechenland keines mehr ist. Doch das wisset ihr selbst, und ich brauche meine Mutter euch nicht zu loben. Drum ohne Zögern den Bogen gespannt! hätte ich doch selbst Lust, mich im Wettkampf zu ver¬ suchen; dann, wenn ich euch besiegte, würde mir die Mutter das Haus nicht verlassen!" So sprach er, warf Purpurmantel und Schwert von der Schulter, zog eine Furche durch den Estrich des Saales, bohrte die Aexte, eine um die andere in den Boden, und stampfte die Erde wieder fest. Alle Zuschauer bewun¬ derten seine Kraft und Pünktlichkeit. Dann griff er selbst nach dem Bogen und stellte sich damit auf die Schwelle. Dreimal versuchte er, den Bogen zu spannen, dreimal versagte ihm die Kraft. Nun zog er die Sehne zum viertenmal an, und jetzt wäre es ihm gelungen; aber ein Wink des Vaters hielt ihn mitten in der An¬ strengung zurück. "Ihr Götter," rief er, "entweder bin ich ein Schwächling, oder noch zu jung, und nicht im Stand, einen Beleidiger von mir abzuwehren! So ver¬ sucht es denn ihr Andern, die ihr kräftiger seyd als ich!"
mich ſeiner noch wohl, obgleich ich damals noch ein kleiner Knabe war, und kaum reden konnte!“ So ſprach Antinous, im Herzen aber dachte er ſich die Bogenſehne ſchon geſpannt, und den Pfeil durch die Aexte hindurch¬ geflogen. Ihm aber war der erſte Pfeil aus der Hand des Odyſſeus beſchieden.
Jetzo ſtand Telemach auf und ſprach: „Fürwahr Jupiter hat mir meinen Verſtand genommen! Meine Mutter erklärt ſich bereit, dieſes Haus zu verlaſſen und einem Freier zu folgen, und ich lache dazu. Wohlan, ihr Freier, ihr waget den Wettkampf um ein Weib, wie in ganz Griechenland keines mehr iſt. Doch das wiſſet ihr ſelbſt, und ich brauche meine Mutter euch nicht zu loben. Drum ohne Zögern den Bogen geſpannt! hätte ich doch ſelbſt Luſt, mich im Wettkampf zu ver¬ ſuchen; dann, wenn ich euch beſiegte, würde mir die Mutter das Haus nicht verlaſſen!“ So ſprach er, warf Purpurmantel und Schwert von der Schulter, zog eine Furche durch den Eſtrich des Saales, bohrte die Aexte, eine um die andere in den Boden, und ſtampfte die Erde wieder feſt. Alle Zuſchauer bewun¬ derten ſeine Kraft und Pünktlichkeit. Dann griff er ſelbſt nach dem Bogen und ſtellte ſich damit auf die Schwelle. Dreimal verſuchte er, den Bogen zu ſpannen, dreimal verſagte ihm die Kraft. Nun zog er die Sehne zum viertenmal an, und jetzt wäre es ihm gelungen; aber ein Wink des Vaters hielt ihn mitten in der An¬ ſtrengung zurück. „Ihr Götter,“ rief er, „entweder bin ich ein Schwächling, oder noch zu jung, und nicht im Stand, einen Beleidiger von mir abzuwehren! So ver¬ ſucht es denn ihr Andern, die ihr kräftiger ſeyd als ich!“
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mich ſeiner noch wohl, obgleich ich damals noch ein
kleiner Knabe war, und kaum reden konnte!“ So ſprach
Antinous, im Herzen aber dachte er ſich die Bogenſehne
ſchon geſpannt, und den Pfeil durch die Aexte hindurch¬
geflogen. Ihm aber war der erſte Pfeil aus der Hand
des Odyſſeus beſchieden.
Jetzo ſtand Telemach auf und ſprach: „Fürwahr
Jupiter hat mir meinen Verſtand genommen! Meine
Mutter erklärt ſich bereit, dieſes Haus zu verlaſſen
und einem Freier zu folgen, und ich lache dazu. Wohlan,
ihr Freier, ihr waget den Wettkampf um ein Weib,
wie in ganz Griechenland keines mehr iſt. Doch das
wiſſet ihr ſelbſt, und ich brauche meine Mutter euch nicht
zu loben. Drum ohne Zögern den Bogen geſpannt!
hätte ich doch ſelbſt Luſt, mich im Wettkampf zu ver¬
ſuchen; dann, wenn ich euch beſiegte, würde mir die
Mutter das Haus nicht verlaſſen!“ So ſprach er,
warf Purpurmantel und Schwert von der Schulter,
zog eine Furche durch den Eſtrich des Saales, bohrte
die Aexte, eine um die andere in den Boden, und
ſtampfte die Erde wieder feſt. Alle Zuſchauer bewun¬
derten ſeine Kraft und Pünktlichkeit. Dann griff er
ſelbſt nach dem Bogen und ſtellte ſich damit auf die
Schwelle. Dreimal verſuchte er, den Bogen zu ſpannen,
dreimal verſagte ihm die Kraft. Nun zog er die Sehne
zum viertenmal an, und jetzt wäre es ihm gelungen;
aber ein Wink des Vaters hielt ihn mitten in der An¬
ſtrengung zurück. „Ihr Götter,“ rief er, „entweder bin
ich ein Schwächling, oder noch zu jung, und nicht im
Stand, einen Beleidiger von mir abzuwehren! So ver¬
ſucht es denn ihr Andern, die ihr kräftiger ſeyd als ich!“
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/274>, abgerufen am 22.11.2024.
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