Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

zu Theil geworden war. Sie saß mit gesenktem Haupt
und niedergeschlagenen Augen auf einem hohen, auch
mit anderer Beute beladenen Wagen. Als Klytämnestra
die edle Gestalt der Jungfrau gewahr wurde, überschlich
sie ein Gefühl der Eifersucht, zu welchem sie freilich am
wenigsten berechtigt war, gewaltiger aber noch befiel sie
ein Schrecken, als sie den Namen der Gefangenen er¬
kundet und erfahren hatte, daß sie die wahrsagende
Priesterin der Pallas in ihrem durch Ehebruch entweih¬
ten Hause beherbergen sollte. Die höchste Gefahr däuchte
ihr deswegen, länger mit ihrem verruchten Vorhaben zu
zögern, und schnell war ihr arglistiger Entschluß gefaßt,
die fremde Jungfrau auf eine Stunde mit dem Gatten
zu verderben. Doch verbarg sie sorgfältig ihr Inneres
vor der Seherin, und als der ganze Zug vor dem Kö¬
nigspallaste zu Mycene angekommen war, trat sie freund¬
lich zu dem Wagen und rief ihr zu: "Steige herab,
traurige Jungfrau, und gib dem Verdrusse Abschied!
Mußte doch selbst Alkmene's unbezwinglicher Sohn, Her¬
kules, einst in die Knechtschaft wandern und sein Haupt
unter das Joch einer fremden Herrin beugen! Wem
das Schicksal einen solchen Zwang zugedacht hat, der
darf sich glücklich preisen, wenn er unter Herren kommt,
bei denen alter Reichthum zu Hause ist, denn wer das
Glück erst kurz und unverhofft geerntet hat, pflegt hart
und übermüthig gegen Knechte zu seyn. Sey getrost,
du sollst Alles bei uns erhalten, was billig ist!"

Kassandra veränderte ihre Miene nicht bei diesen
Worten, lange blieb sie ohne Regung auf dem Stuhl
ihres Wagens sitzen, die Dienerinnen mußten sie nöthi¬
gen, ihren Platz zu verlassen. Endlich sprang sie vom

zu Theil geworden war. Sie ſaß mit geſenktem Haupt
und niedergeſchlagenen Augen auf einem hohen, auch
mit anderer Beute beladenen Wagen. Als Klytämneſtra
die edle Geſtalt der Jungfrau gewahr wurde, überſchlich
ſie ein Gefühl der Eiferſucht, zu welchem ſie freilich am
wenigſten berechtigt war, gewaltiger aber noch befiel ſie
ein Schrecken, als ſie den Namen der Gefangenen er¬
kundet und erfahren hatte, daß ſie die wahrſagende
Prieſterin der Pallas in ihrem durch Ehebruch entweih¬
ten Hauſe beherbergen ſollte. Die höchſte Gefahr däuchte
ihr deswegen, länger mit ihrem verruchten Vorhaben zu
zögern, und ſchnell war ihr argliſtiger Entſchluß gefaßt,
die fremde Jungfrau auf eine Stunde mit dem Gatten
zu verderben. Doch verbarg ſie ſorgfältig ihr Inneres
vor der Seherin, und als der ganze Zug vor dem Kö¬
nigspallaſte zu Mycene angekommen war, trat ſie freund¬
lich zu dem Wagen und rief ihr zu: „Steige herab,
traurige Jungfrau, und gib dem Verdruſſe Abſchied!
Mußte doch ſelbſt Alkmene's unbezwinglicher Sohn, Her¬
kules, einſt in die Knechtſchaft wandern und ſein Haupt
unter das Joch einer fremden Herrin beugen! Wem
das Schickſal einen ſolchen Zwang zugedacht hat, der
darf ſich glücklich preiſen, wenn er unter Herren kommt,
bei denen alter Reichthum zu Hauſe iſt, denn wer das
Glück erſt kurz und unverhofft geerntet hat, pflegt hart
und übermüthig gegen Knechte zu ſeyn. Sey getroſt,
du ſollſt Alles bei uns erhalten, was billig iſt!“

Kaſſandra veränderte ihre Miene nicht bei dieſen
Worten, lange blieb ſie ohne Regung auf dem Stuhl
ihres Wagens ſitzen, die Dienerinnen mußten ſie nöthi¬
gen, ihren Platz zu verlaſſen. Endlich ſprang ſie vom

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0032" n="10"/>
zu Theil geworden war. Sie &#x017F;aß mit ge&#x017F;enktem Haupt<lb/>
und niederge&#x017F;chlagenen Augen auf einem hohen, auch<lb/>
mit anderer Beute beladenen Wagen. Als Klytämne&#x017F;tra<lb/>
die edle Ge&#x017F;talt der Jungfrau gewahr wurde, über&#x017F;chlich<lb/>
&#x017F;ie ein Gefühl der Eifer&#x017F;ucht, zu welchem &#x017F;ie freilich am<lb/>
wenig&#x017F;ten berechtigt war, gewaltiger aber noch befiel &#x017F;ie<lb/>
ein Schrecken, als &#x017F;ie den Namen der Gefangenen er¬<lb/>
kundet und erfahren hatte, daß &#x017F;ie die wahr&#x017F;agende<lb/>
Prie&#x017F;terin der Pallas in ihrem durch Ehebruch entweih¬<lb/>
ten Hau&#x017F;e beherbergen &#x017F;ollte. Die höch&#x017F;te Gefahr däuchte<lb/>
ihr deswegen, länger mit ihrem verruchten Vorhaben zu<lb/>
zögern, und &#x017F;chnell war ihr argli&#x017F;tiger Ent&#x017F;chluß gefaßt,<lb/>
die fremde Jungfrau auf <hi rendition="#g">eine</hi> Stunde mit dem Gatten<lb/>
zu verderben. Doch verbarg &#x017F;ie &#x017F;orgfältig ihr Inneres<lb/>
vor der Seherin, und als der ganze Zug vor dem Kö¬<lb/>
nigspalla&#x017F;te zu Mycene angekommen war, trat &#x017F;ie freund¬<lb/>
lich zu dem Wagen und rief ihr zu: &#x201E;Steige herab,<lb/>
traurige Jungfrau, und gib dem Verdru&#x017F;&#x017F;e Ab&#x017F;chied!<lb/>
Mußte doch &#x017F;elb&#x017F;t Alkmene's unbezwinglicher Sohn, Her¬<lb/>
kules, ein&#x017F;t in die Knecht&#x017F;chaft wandern und &#x017F;ein Haupt<lb/>
unter das Joch einer fremden Herrin beugen! Wem<lb/>
das Schick&#x017F;al einen &#x017F;olchen Zwang zugedacht hat, der<lb/>
darf &#x017F;ich glücklich prei&#x017F;en, wenn er unter Herren kommt,<lb/>
bei denen alter Reichthum zu Hau&#x017F;e i&#x017F;t, denn wer das<lb/>
Glück er&#x017F;t kurz und unverhofft geerntet hat, pflegt hart<lb/>
und übermüthig gegen Knechte zu &#x017F;eyn. Sey getro&#x017F;t,<lb/>
du &#x017F;oll&#x017F;t Alles bei uns erhalten, was billig i&#x017F;t!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Ka&#x017F;&#x017F;andra veränderte ihre Miene nicht bei die&#x017F;en<lb/>
Worten, lange blieb &#x017F;ie ohne Regung auf dem Stuhl<lb/>
ihres Wagens &#x017F;itzen, die Dienerinnen mußten &#x017F;ie nöthi¬<lb/>
gen, ihren Platz zu verla&#x017F;&#x017F;en. Endlich &#x017F;prang &#x017F;ie vom<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0032] zu Theil geworden war. Sie ſaß mit geſenktem Haupt und niedergeſchlagenen Augen auf einem hohen, auch mit anderer Beute beladenen Wagen. Als Klytämneſtra die edle Geſtalt der Jungfrau gewahr wurde, überſchlich ſie ein Gefühl der Eiferſucht, zu welchem ſie freilich am wenigſten berechtigt war, gewaltiger aber noch befiel ſie ein Schrecken, als ſie den Namen der Gefangenen er¬ kundet und erfahren hatte, daß ſie die wahrſagende Prieſterin der Pallas in ihrem durch Ehebruch entweih¬ ten Hauſe beherbergen ſollte. Die höchſte Gefahr däuchte ihr deswegen, länger mit ihrem verruchten Vorhaben zu zögern, und ſchnell war ihr argliſtiger Entſchluß gefaßt, die fremde Jungfrau auf eine Stunde mit dem Gatten zu verderben. Doch verbarg ſie ſorgfältig ihr Inneres vor der Seherin, und als der ganze Zug vor dem Kö¬ nigspallaſte zu Mycene angekommen war, trat ſie freund¬ lich zu dem Wagen und rief ihr zu: „Steige herab, traurige Jungfrau, und gib dem Verdruſſe Abſchied! Mußte doch ſelbſt Alkmene's unbezwinglicher Sohn, Her¬ kules, einſt in die Knechtſchaft wandern und ſein Haupt unter das Joch einer fremden Herrin beugen! Wem das Schickſal einen ſolchen Zwang zugedacht hat, der darf ſich glücklich preiſen, wenn er unter Herren kommt, bei denen alter Reichthum zu Hauſe iſt, denn wer das Glück erſt kurz und unverhofft geerntet hat, pflegt hart und übermüthig gegen Knechte zu ſeyn. Sey getroſt, du ſollſt Alles bei uns erhalten, was billig iſt!“ Kaſſandra veränderte ihre Miene nicht bei dieſen Worten, lange blieb ſie ohne Regung auf dem Stuhl ihres Wagens ſitzen, die Dienerinnen mußten ſie nöthi¬ gen, ihren Platz zu verlaſſen. Endlich ſprang ſie vom

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/32
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/32>, abgerufen am 21.11.2024.