Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

sich über ihr Antlitz verbreitete. Ihre Schwester Anna
muthmaßte indessen nicht, daß sich hinter tiefem seltsa¬
men und neuen Opfergebrauch ein Gedanke des Selbst¬
mords verstecke; sie ahnte nicht, von welcher Raserei das
Gemüth ihrer Schwester ergriffen sey; auch befürchtete
sie nichts Schlimmeres als beim Tode des ersten Ge¬
mahls ihrer Schwester, des Tyriers Sychäus, und ging
sich ihres Auftrags zu entledigen.

Sobald aber der Holzstoß sich in die Luft erhob,
aus Kien und Eichenholz aufgeschichtet, erschien die Kö¬
nigin selbst, bekränzte ihn mit Cypressenzweigen und zog
Blumenketten rings um ihn her. Dann legte sie Schwert,
Gewande und Bildniß des Aeneas darauf, und ringsum
standen Altäre aufgerichtet. Die fremde Seherin mit
fliegendem Haare, rief alle Götter der Unterwelt an, und
goß einen eigenen Höllentrank auf den brennenden Schei¬
terhaufen aus; Kräuter, die mit Eicheln im Monden¬
schein abgemäht worden waren, wurden darauf geworfen
und noch allerlei Beschwörungen vorgenommen. Dann
kehrte die trauernde Königin zur letzten Nachtruhe auf
Erden in ihren Palast zurück.

Aeneas lag indessen, nachdem die Abfahrt beschlos¬
sen war, auf dem Hinterverdecke des Schiffes, dem Schlum¬
mer hingegeben. Da erschien ihm noch einmal der Gott
Merkurius im Traume und schien ihn zu ermahnen:
"Sohn der Göttin, wie kannst du in so gefährlicher
Lage schlummern? Siehest du nicht, wie viele Gefahren
dich umringen? Hörst du die günstigen Westwinde nicht
sausen? Betrug, gräßliche Frevel der Nachgier wälzt die
verlassene Königin in ihrem Herzen! Wirst du nicht
fliehen, so lange du noch kannst?" Erschrocken sprang

ſich über ihr Antlitz verbreitete. Ihre Schweſter Anna
muthmaßte indeſſen nicht, daß ſich hinter tiefem ſeltſa¬
men und neuen Opfergebrauch ein Gedanke des Selbſt¬
mords verſtecke; ſie ahnte nicht, von welcher Raſerei das
Gemüth ihrer Schweſter ergriffen ſey; auch befürchtete
ſie nichts Schlimmeres als beim Tode des erſten Ge¬
mahls ihrer Schweſter, des Tyriers Sychäus, und ging
ſich ihres Auftrags zu entledigen.

Sobald aber der Holzſtoß ſich in die Luft erhob,
aus Kien und Eichenholz aufgeſchichtet, erſchien die Kö¬
nigin ſelbſt, bekränzte ihn mit Cypreſſenzweigen und zog
Blumenketten rings um ihn her. Dann legte ſie Schwert,
Gewande und Bildniß des Aeneas darauf, und ringsum
ſtanden Altäre aufgerichtet. Die fremde Seherin mit
fliegendem Haare, rief alle Götter der Unterwelt an, und
goß einen eigenen Höllentrank auf den brennenden Schei¬
terhaufen aus; Kräuter, die mit Eicheln im Monden¬
ſchein abgemäht worden waren, wurden darauf geworfen
und noch allerlei Beſchwörungen vorgenommen. Dann
kehrte die trauernde Königin zur letzten Nachtruhe auf
Erden in ihren Palaſt zurück.

Aeneas lag indeſſen, nachdem die Abfahrt beſchloſ¬
ſen war, auf dem Hinterverdecke des Schiffes, dem Schlum¬
mer hingegeben. Da erſchien ihm noch einmal der Gott
Merkurius im Traume und ſchien ihn zu ermahnen:
„Sohn der Göttin, wie kannſt du in ſo gefährlicher
Lage ſchlummern? Sieheſt du nicht, wie viele Gefahren
dich umringen? Hörſt du die günſtigen Weſtwinde nicht
ſauſen? Betrug, gräßliche Frevel der Nachgier wälzt die
verlaſſene Königin in ihrem Herzen! Wirſt du nicht
fliehen, ſo lange du noch kannſt?“ Erſchrocken ſprang

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0364" n="342"/>
&#x017F;ich über ihr Antlitz verbreitete. Ihre Schwe&#x017F;ter Anna<lb/>
muthmaßte inde&#x017F;&#x017F;en nicht, daß &#x017F;ich hinter tiefem &#x017F;elt&#x017F;<lb/>
men und neuen Opfergebrauch ein Gedanke des Selb&#x017F;<lb/>
mords ver&#x017F;tecke; &#x017F;ie ahnte nicht, von welcher Ra&#x017F;erei das<lb/>
Gemüth ihrer Schwe&#x017F;ter ergriffen &#x017F;ey; auch befürchtete<lb/>
&#x017F;ie nichts Schlimmeres als beim Tode des er&#x017F;ten Ge¬<lb/>
mahls ihrer Schwe&#x017F;ter, des Tyriers Sychäus, und ging<lb/>
&#x017F;ich ihres Auftrags zu entledigen.</p><lb/>
            <p>Sobald aber der Holz&#x017F;toß &#x017F;ich in die Luft erhob,<lb/>
aus Kien und Eichenholz aufge&#x017F;chichtet, er&#x017F;chien die Kö¬<lb/>
nigin &#x017F;elb&#x017F;t, bekränzte ihn mit Cypre&#x017F;&#x017F;enzweigen und zog<lb/>
Blumenketten rings um ihn her. Dann legte &#x017F;ie Schwert,<lb/>
Gewande und Bildniß des Aeneas darauf, und ringsum<lb/>
&#x017F;tanden Altäre aufgerichtet. Die fremde Seherin mit<lb/>
fliegendem Haare, rief alle Götter der Unterwelt an, und<lb/>
goß einen eigenen Höllentrank auf den brennenden Schei¬<lb/>
terhaufen aus; Kräuter, die mit Eicheln im Monden¬<lb/>
&#x017F;chein abgemäht worden waren, wurden darauf geworfen<lb/>
und noch allerlei Be&#x017F;chwörungen vorgenommen. Dann<lb/>
kehrte die trauernde Königin zur letzten Nachtruhe auf<lb/>
Erden in ihren Pala&#x017F;t zurück.</p><lb/>
            <p>Aeneas lag inde&#x017F;&#x017F;en, nachdem die Abfahrt be&#x017F;chlo&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en war, auf dem Hinterverdecke des Schiffes, dem Schlum¬<lb/>
mer hingegeben. Da er&#x017F;chien ihm noch einmal der Gott<lb/>
Merkurius im Traume und &#x017F;chien ihn zu ermahnen:<lb/>
&#x201E;Sohn der Göttin, wie kann&#x017F;t du in &#x017F;o gefährlicher<lb/>
Lage &#x017F;chlummern? Siehe&#x017F;t du nicht, wie viele Gefahren<lb/>
dich umringen? Hör&#x017F;t du die gün&#x017F;tigen We&#x017F;twinde nicht<lb/>
&#x017F;au&#x017F;en? Betrug, gräßliche Frevel der Nachgier wälzt die<lb/>
verla&#x017F;&#x017F;ene Königin in ihrem Herzen! Wir&#x017F;t du nicht<lb/>
fliehen, &#x017F;o lange du noch kann&#x017F;t?&#x201C; Er&#x017F;chrocken &#x017F;prang<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[342/0364] ſich über ihr Antlitz verbreitete. Ihre Schweſter Anna muthmaßte indeſſen nicht, daß ſich hinter tiefem ſeltſa¬ men und neuen Opfergebrauch ein Gedanke des Selbſt¬ mords verſtecke; ſie ahnte nicht, von welcher Raſerei das Gemüth ihrer Schweſter ergriffen ſey; auch befürchtete ſie nichts Schlimmeres als beim Tode des erſten Ge¬ mahls ihrer Schweſter, des Tyriers Sychäus, und ging ſich ihres Auftrags zu entledigen. Sobald aber der Holzſtoß ſich in die Luft erhob, aus Kien und Eichenholz aufgeſchichtet, erſchien die Kö¬ nigin ſelbſt, bekränzte ihn mit Cypreſſenzweigen und zog Blumenketten rings um ihn her. Dann legte ſie Schwert, Gewande und Bildniß des Aeneas darauf, und ringsum ſtanden Altäre aufgerichtet. Die fremde Seherin mit fliegendem Haare, rief alle Götter der Unterwelt an, und goß einen eigenen Höllentrank auf den brennenden Schei¬ terhaufen aus; Kräuter, die mit Eicheln im Monden¬ ſchein abgemäht worden waren, wurden darauf geworfen und noch allerlei Beſchwörungen vorgenommen. Dann kehrte die trauernde Königin zur letzten Nachtruhe auf Erden in ihren Palaſt zurück. Aeneas lag indeſſen, nachdem die Abfahrt beſchloſ¬ ſen war, auf dem Hinterverdecke des Schiffes, dem Schlum¬ mer hingegeben. Da erſchien ihm noch einmal der Gott Merkurius im Traume und ſchien ihn zu ermahnen: „Sohn der Göttin, wie kannſt du in ſo gefährlicher Lage ſchlummern? Sieheſt du nicht, wie viele Gefahren dich umringen? Hörſt du die günſtigen Weſtwinde nicht ſauſen? Betrug, gräßliche Frevel der Nachgier wälzt die verlaſſene Königin in ihrem Herzen! Wirſt du nicht fliehen, ſo lange du noch kannſt?“ Erſchrocken ſprang

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/364
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/364>, abgerufen am 22.11.2024.