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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Mutter und widersetzte sich nicht halsstarrig ihren Be¬
fehlen wie Elektra. So kam sie denn auch eines Tages
mit Opfergeräthe und Grabesspende für Verstorbene im
Auftrage der Mutter vor das Thor des Pallastes ge¬
gangen und trat der Schwester hier in den Weg. Elektra
schalt sie über diesen Gehorsam und fand es schnöde,
daß ein Kind solchen Mannes des Vaters vergessen und
der ruchlosen Mutter stets gedenken könne. "Willst du
denn," erwiederte ihr Chrysothemis, "so lange Zeit hin¬
durch niemals lernen, Schwester, leerem Grame dich
nicht fruchtlos hinzugeben? Glaube nur, daß mich auch
kränkt, was ich sehe, und nur aus Noth ziehe ich mein
Segel ein. Dich aber, dieß vernahm ich von den Grau¬
samen, wollen sie, wenn du nicht aufhörst zu klagen,
ferne von dem Elternhause in einen tiefen Kerker werfen,
wo du den Strahl der Sonne niemals wieder schauen
sollst. Bedenke dieß, und gib nicht mir die Schuld,
wenn jene Noth einbricht!" -- "Mögen sie es thun,"
antwortete Elektra stolz und kalt, "mir ist am wohlsten,
wenn ich recht ferne von euch Allen bin! Aber wem
bringst du dieses Opfer da, Schwester?" -- "Es ist von
der Mutter unserm verstorbenen Vater bestimmt," --
"Wie, für den Ermordeten?" rief Elektra staunend.
"Sprich, was bringt sie auf solche Gedanken?" -- "Ein
nächtliches Schreckbild," erwiederte die jüngere Schwe¬
ster. "Sie hat, so geht die Sage, unsern Vater im
Traume geschaut, wie er den Herrscherstab, den er einst
trug und jetzt Aegisthus trägt, in unserm Hause ergriff
und in die Erde pflanzte. Diesem entsproßte alsobald
ein Baum mit Aesten und üppigen Zweigen, der über
ganz Mycene seinen Schatten verbreitete. Durch dieses

Mutter und widerſetzte ſich nicht halsſtarrig ihren Be¬
fehlen wie Elektra. So kam ſie denn auch eines Tages
mit Opfergeräthe und Grabesſpende für Verſtorbene im
Auftrage der Mutter vor das Thor des Pallaſtes ge¬
gangen und trat der Schweſter hier in den Weg. Elektra
ſchalt ſie über dieſen Gehorſam und fand es ſchnöde,
daß ein Kind ſolchen Mannes des Vaters vergeſſen und
der ruchloſen Mutter ſtets gedenken könne. „Willſt du
denn,“ erwiederte ihr Chryſothemis, „ſo lange Zeit hin¬
durch niemals lernen, Schweſter, leerem Grame dich
nicht fruchtlos hinzugeben? Glaube nur, daß mich auch
kränkt, was ich ſehe, und nur aus Noth ziehe ich mein
Segel ein. Dich aber, dieß vernahm ich von den Grau¬
ſamen, wollen ſie, wenn du nicht aufhörſt zu klagen,
ferne von dem Elternhauſe in einen tiefen Kerker werfen,
wo du den Strahl der Sonne niemals wieder ſchauen
ſollſt. Bedenke dieß, und gib nicht mir die Schuld,
wenn jene Noth einbricht!“ — „Mögen ſie es thun,“
antwortete Elektra ſtolz und kalt, „mir iſt am wohlſten,
wenn ich recht ferne von euch Allen bin! Aber wem
bringſt du dieſes Opfer da, Schweſter?“ — „Es iſt von
der Mutter unſerm verſtorbenen Vater beſtimmt,“ —
„Wie, für den Ermordeten?“ rief Elektra ſtaunend.
„Sprich, was bringt ſie auf ſolche Gedanken?“ — „Ein
nächtliches Schreckbild,“ erwiederte die jüngere Schwe¬
ſter. „Sie hat, ſo geht die Sage, unſern Vater im
Traume geſchaut, wie er den Herrſcherſtab, den er einſt
trug und jetzt Aegiſthus trägt, in unſerm Hauſe ergriff
und in die Erde pflanzte. Dieſem entſproßte alſobald
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[16/0038] Mutter und widerſetzte ſich nicht halsſtarrig ihren Be¬ fehlen wie Elektra. So kam ſie denn auch eines Tages mit Opfergeräthe und Grabesſpende für Verſtorbene im Auftrage der Mutter vor das Thor des Pallaſtes ge¬ gangen und trat der Schweſter hier in den Weg. Elektra ſchalt ſie über dieſen Gehorſam und fand es ſchnöde, daß ein Kind ſolchen Mannes des Vaters vergeſſen und der ruchloſen Mutter ſtets gedenken könne. „Willſt du denn,“ erwiederte ihr Chryſothemis, „ſo lange Zeit hin¬ durch niemals lernen, Schweſter, leerem Grame dich nicht fruchtlos hinzugeben? Glaube nur, daß mich auch kränkt, was ich ſehe, und nur aus Noth ziehe ich mein Segel ein. Dich aber, dieß vernahm ich von den Grau¬ ſamen, wollen ſie, wenn du nicht aufhörſt zu klagen, ferne von dem Elternhauſe in einen tiefen Kerker werfen, wo du den Strahl der Sonne niemals wieder ſchauen ſollſt. Bedenke dieß, und gib nicht mir die Schuld, wenn jene Noth einbricht!“ — „Mögen ſie es thun,“ antwortete Elektra ſtolz und kalt, „mir iſt am wohlſten, wenn ich recht ferne von euch Allen bin! Aber wem bringſt du dieſes Opfer da, Schweſter?“ — „Es iſt von der Mutter unſerm verſtorbenen Vater beſtimmt,“ — „Wie, für den Ermordeten?“ rief Elektra ſtaunend. „Sprich, was bringt ſie auf ſolche Gedanken?“ — „Ein nächtliches Schreckbild,“ erwiederte die jüngere Schwe¬ ſter. „Sie hat, ſo geht die Sage, unſern Vater im Traume geſchaut, wie er den Herrſcherſtab, den er einſt trug und jetzt Aegiſthus trägt, in unſerm Hauſe ergriff und in die Erde pflanzte. Dieſem entſproßte alſobald ein Baum mit Aeſten und üppigen Zweigen, der über ganz Mycene ſeinen Schatten verbreitete. Durch dieſes

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/38>, abgerufen am 21.11.2024.