an, eilten auf den Königspalast zu und versammelten sich um Latinus, ihren Herrn. Auch Turnus fand sich schreiend und tobend ein, mit der lauten Anklage, daß die Herrschaft des Landes an die Trojaner verrathen werde. So umringten sie Alle, in Klagen und Lärm wetteifernd, die Königsburg des Alten. Dieser aber stand unbeweglich, wie ein Fels im Meere. Dennoch vermochte er dem blinden Toben in die Länge nicht Widerstand zu leisten. "Wehe mir," rief er endlich, "ich fühl' es wohl, uns reißt der Sturm fort. Armes Volk, du wirst gegen den Willen der Götter kämpfend, diesen Frevel mit deinem eigenen Blute büßen! Auch du Tur¬ nus, wirst dem Strafgerichte des Himmels nicht ent¬ gehen! Ich aber glaubte schon im Hafen zu seyn, und hoffte in Ruhe zu enden, nun gönnt ihr mir nicht ein¬ mal einen friedlichen Tod!"
Der Götterkönigin Juno, der Feindin Troja's, dauerte der Verzug zu lange. In der Latinerstadt stand ein Tempel des Krieges mit zwiefachen Pfosten, von hundert ehernen Riegeln verschlossen; sein Hüter ist Janus, der uralte Städtegott der Latiner. Wenn die Häupter des Volkes blutigen Kampf auf Leben und Tod beschließen, so öffnet der König selbst im feierlichen Kriegsgewande die knarrenden Pfosten. Die¬ ses zu thun, ermahnte das Volk jetzt auch seinen König Latinus, er aber weigerte sich dieses gräßlichen Dienstes und verbarg sich in die tiefste Einsamkeit seines Palastes. Da schwang sich Juno selbst vom Himmel hernieder, stieß mit eigener Götterhand an die widerstrebenden Pfo¬ sten, drehte die Angeln, und donnernd fuhren die eher¬ nen Pforten des Kriegstempels auseinander.
an, eilten auf den Königspalaſt zu und verſammelten ſich um Latinus, ihren Herrn. Auch Turnus fand ſich ſchreiend und tobend ein, mit der lauten Anklage, daß die Herrſchaft des Landes an die Trojaner verrathen werde. So umringten ſie Alle, in Klagen und Lärm wetteifernd, die Königsburg des Alten. Dieſer aber ſtand unbeweglich, wie ein Fels im Meere. Dennoch vermochte er dem blinden Toben in die Länge nicht Widerſtand zu leiſten. „Wehe mir,“ rief er endlich, „ich fühl' es wohl, uns reißt der Sturm fort. Armes Volk, du wirſt gegen den Willen der Götter kämpfend, dieſen Frevel mit deinem eigenen Blute büßen! Auch du Tur¬ nus, wirſt dem Strafgerichte des Himmels nicht ent¬ gehen! Ich aber glaubte ſchon im Hafen zu ſeyn, und hoffte in Ruhe zu enden, nun gönnt ihr mir nicht ein¬ mal einen friedlichen Tod!“
Der Götterkönigin Juno, der Feindin Troja's, dauerte der Verzug zu lange. In der Latinerſtadt ſtand ein Tempel des Krieges mit zwiefachen Pfoſten, von hundert ehernen Riegeln verſchloſſen; ſein Hüter iſt Janus, der uralte Städtegott der Latiner. Wenn die Häupter des Volkes blutigen Kampf auf Leben und Tod beſchließen, ſo öffnet der König ſelbſt im feierlichen Kriegsgewande die knarrenden Pfoſten. Die¬ ſes zu thun, ermahnte das Volk jetzt auch ſeinen König Latinus, er aber weigerte ſich dieſes gräßlichen Dienſtes und verbarg ſich in die tiefſte Einſamkeit ſeines Palaſtes. Da ſchwang ſich Juno ſelbſt vom Himmel hernieder, ſtieß mit eigener Götterhand an die widerſtrebenden Pfo¬ ſten, drehte die Angeln, und donnernd fuhren die eher¬ nen Pforten des Kriegstempels auseinander.
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an, eilten auf den Königspalaſt zu und verſammelten ſich
um Latinus, ihren Herrn. Auch Turnus fand ſich
ſchreiend und tobend ein, mit der lauten Anklage, daß
die Herrſchaft des Landes an die Trojaner verrathen
werde. So umringten ſie Alle, in Klagen und Lärm
wetteifernd, die Königsburg des Alten. Dieſer aber
ſtand unbeweglich, wie ein Fels im Meere. Dennoch
vermochte er dem blinden Toben in die Länge nicht
Widerſtand zu leiſten. „Wehe mir,“ rief er endlich, „ich
fühl' es wohl, uns reißt der Sturm fort. Armes Volk,
du wirſt gegen den Willen der Götter kämpfend, dieſen
Frevel mit deinem eigenen Blute büßen! Auch du Tur¬
nus, wirſt dem Strafgerichte des Himmels nicht ent¬
gehen! Ich aber glaubte ſchon im Hafen zu ſeyn, und
hoffte in Ruhe zu enden, nun gönnt ihr mir nicht ein¬
mal einen friedlichen Tod!“
Der Götterkönigin Juno, der Feindin Troja's,
dauerte der Verzug zu lange. In der Latinerſtadt ſtand
ein Tempel des Krieges mit zwiefachen Pfoſten, von
hundert ehernen Riegeln verſchloſſen; ſein Hüter iſt
Janus, der uralte Städtegott der Latiner. Wenn
die Häupter des Volkes blutigen Kampf auf Leben
und Tod beſchließen, ſo öffnet der König ſelbſt im
feierlichen Kriegsgewande die knarrenden Pfoſten. Die¬
ſes zu thun, ermahnte das Volk jetzt auch ſeinen König
Latinus, er aber weigerte ſich dieſes gräßlichen Dienſtes
und verbarg ſich in die tiefſte Einſamkeit ſeines Palaſtes.
Da ſchwang ſich Juno ſelbſt vom Himmel hernieder,
ſtieß mit eigener Götterhand an die widerſtrebenden Pfo¬
ſten, drehte die Angeln, und donnernd fuhren die eher¬
nen Pforten des Kriegstempels auseinander.
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/382>, abgerufen am 22.11.2024.
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