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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Turnus lächelte nur, und erwiederte ganz ruhig: "Bind'
an, wenn du es wagst, und beginne nur den Zweikampf:
und wenn du ein Hektor wärest, so sollst du deinen Achil¬
les finden!" Pandarus schleuderte darauf seinen Wurf¬
spieß ab, in dem die Rinde noch mit allen Knoten saß;
aber Juno lenkte das Geschoß ab, und die Lanze flog
in den Thorflügel. Jetzt bäumte sich Turnus und schwang
sein Schwert: "Diesem Streiche wirst du nicht entfliehen,"
schrie er, und spaltete ihm die Schläfe mitten durch die
Stirne, daß das Haupt in gleiche Theile zerhauen, dem
Zusammensinkenden von den Schultern herunterhing.

Zitternd stäubten die Trojaner auseinander; und
wäre dem Sieger jetzt der Gedanke gekommen, das Thor
wieder zu öffnen und seine Freunde hereinzulassen, so
wäre es um die neue Ansiedlung Troja's geschehen ge¬
wesen. So aber ließ er sich von der Mordlust bethören,
und drang von Sieg zu Siege mit den Seinen immer
tiefer in das Innere des Lagers ein. Schon war die
Verwirrung bis zu Serestus und Mnestheus gedrungen,
die in der Mitte der Mauern befehligten. Da brachte
zuerst Mnestheus die fliehenden Freunde mit den Worten
zur Besinnung: "Wohin wendet ihr euch, Unsinnige,
was für andere Mauern, was für andere Burgen be¬
sitzet ihr? Soll ein einziger Mann, ringsumschlossen von
euren Wällen, ungestraft ein solches Gemetzel unter euch
anrichten? Habt ihr euer Vaterland, euren Führer Ae¬
neas, die Götter eurer Heimath so schamlos vergessen?"
Mit solchen Reden beschämte und kräftigte er die Fliehen¬
den, daß sie in eine dichte Rotte zusammengedrängt, wie¬
der Stand hielten. Den Turnus hatte der siegreiche
Kampf selbst allmählig ermüdet. Zum Thore zurückzu¬

Turnus lächelte nur, und erwiederte ganz ruhig: „Bind'
an, wenn du es wagſt, und beginne nur den Zweikampf:
und wenn du ein Hektor wäreſt, ſo ſollſt du deinen Achil¬
les finden!“ Pandarus ſchleuderte darauf ſeinen Wurf¬
ſpieß ab, in dem die Rinde noch mit allen Knoten ſaß;
aber Juno lenkte das Geſchoß ab, und die Lanze flog
in den Thorflügel. Jetzt bäumte ſich Turnus und ſchwang
ſein Schwert: „Dieſem Streiche wirſt du nicht entfliehen,“
ſchrie er, und ſpaltete ihm die Schläfe mitten durch die
Stirne, daß das Haupt in gleiche Theile zerhauen, dem
Zuſammenſinkenden von den Schultern herunterhing.

Zitternd ſtäubten die Trojaner auseinander; und
wäre dem Sieger jetzt der Gedanke gekommen, das Thor
wieder zu öffnen und ſeine Freunde hereinzulaſſen, ſo
wäre es um die neue Anſiedlung Troja's geſchehen ge¬
weſen. So aber ließ er ſich von der Mordluſt bethören,
und drang von Sieg zu Siege mit den Seinen immer
tiefer in das Innere des Lagers ein. Schon war die
Verwirrung bis zu Sereſtus und Mneſtheus gedrungen,
die in der Mitte der Mauern befehligten. Da brachte
zuerſt Mneſtheus die fliehenden Freunde mit den Worten
zur Beſinnung: „Wohin wendet ihr euch, Unſinnige,
was für andere Mauern, was für andere Burgen be¬
ſitzet ihr? Soll ein einziger Mann, ringsumſchloſſen von
euren Wällen, ungeſtraft ein ſolches Gemetzel unter euch
anrichten? Habt ihr euer Vaterland, euren Führer Ae¬
neas, die Götter eurer Heimath ſo ſchamlos vergeſſen?“
Mit ſolchen Reden beſchämte und kräftigte er die Fliehen¬
den, daß ſie in eine dichte Rotte zuſammengedrängt, wie¬
der Stand hielten. Den Turnus hatte der ſiegreiche
Kampf ſelbſt allmählig ermüdet. Zum Thore zurückzu¬

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[386/0408] Turnus lächelte nur, und erwiederte ganz ruhig: „Bind' an, wenn du es wagſt, und beginne nur den Zweikampf: und wenn du ein Hektor wäreſt, ſo ſollſt du deinen Achil¬ les finden!“ Pandarus ſchleuderte darauf ſeinen Wurf¬ ſpieß ab, in dem die Rinde noch mit allen Knoten ſaß; aber Juno lenkte das Geſchoß ab, und die Lanze flog in den Thorflügel. Jetzt bäumte ſich Turnus und ſchwang ſein Schwert: „Dieſem Streiche wirſt du nicht entfliehen,“ ſchrie er, und ſpaltete ihm die Schläfe mitten durch die Stirne, daß das Haupt in gleiche Theile zerhauen, dem Zuſammenſinkenden von den Schultern herunterhing. Zitternd ſtäubten die Trojaner auseinander; und wäre dem Sieger jetzt der Gedanke gekommen, das Thor wieder zu öffnen und ſeine Freunde hereinzulaſſen, ſo wäre es um die neue Anſiedlung Troja's geſchehen ge¬ weſen. So aber ließ er ſich von der Mordluſt bethören, und drang von Sieg zu Siege mit den Seinen immer tiefer in das Innere des Lagers ein. Schon war die Verwirrung bis zu Sereſtus und Mneſtheus gedrungen, die in der Mitte der Mauern befehligten. Da brachte zuerſt Mneſtheus die fliehenden Freunde mit den Worten zur Beſinnung: „Wohin wendet ihr euch, Unſinnige, was für andere Mauern, was für andere Burgen be¬ ſitzet ihr? Soll ein einziger Mann, ringsumſchloſſen von euren Wällen, ungeſtraft ein ſolches Gemetzel unter euch anrichten? Habt ihr euer Vaterland, euren Führer Ae¬ neas, die Götter eurer Heimath ſo ſchamlos vergeſſen?“ Mit ſolchen Reden beſchämte und kräftigte er die Fliehen¬ den, daß ſie in eine dichte Rotte zuſammengedrängt, wie¬ der Stand hielten. Den Turnus hatte der ſiegreiche Kampf ſelbſt allmählig ermüdet. Zum Thore zurückzu¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/408>, abgerufen am 22.11.2024.