lachend und weinend zugleich. "Höre, wie ich auf die Spur der Wahrheit kam. Als ich an das überwachsene Grab unsers Vaters kam, da sah ich auf der Höhe Spuren einer frischen Opferspende von Milch, und zu¬ gleich seine Ruhestätte mit mancherlei Blumen bekränzt. Staunend und ängstlich durchspähete ich den Ort, und als ich Niemand gewahr wurde, wagte ich es, weiter zu forschen. Da entdeckte ich am Rande des Grabmals eine frisch abgeschnittene Locke. Auf einmal steigt in meiner Seele, ich weiß nicht wie, das Bild unseres fernen Bruders Orestes auf, und mich ergreift eine Ahnung, daß er, nur er es sey, von welchem diese Spur herrühre. Unter heimlichen Freudenthränen greife ich nach der Locke, und hier bringe ich sie. Sie muß, sie muß von des Bruders Haupte geschnitten seyn!"
Elektra blieb bei dieser unsicheren Kunde unglaubig sitzen, und schüttelte das Haupt. "Ich bedaure dich deiner thörichten Leichtgläubigkeit wegen," sprach sie, "du weißest nicht, was ich weiß." Und nun erzählte sie der Schwester die ganze Botschaft des Phociers, so daß der armen Chrysothemis, die sich von Wort zu Wort mehr um ihre Hoffnung betrogen fand, nichts übrig blieb, als in den Weheruf Elektra's mit einzustimmen. "Ohne Zweifel," sagte Elektra, "rührt die Locke von irgend einem theilnehmenden Freunde her, der dem jämmerlich umge¬ kommenen Bruder am Grabe des ermordeten Vaters ein Andenken stiften wollte!" Und doch hatte sich die Hel¬ denjungfrau unter diesen Gesprächen wieder ermannt und machte der Schwester den Vorschlag: da die letzte Hoff¬ nung, den Vater durch die Hand des Sohnes zu rächen, mit Orestes erloschen sey, die große That gemeinschaftlich
lachend und weinend zugleich. „Höre, wie ich auf die Spur der Wahrheit kam. Als ich an das überwachſene Grab unſers Vaters kam, da ſah ich auf der Höhe Spuren einer friſchen Opferſpende von Milch, und zu¬ gleich ſeine Ruheſtätte mit mancherlei Blumen bekränzt. Staunend und ängſtlich durchſpähete ich den Ort, und als ich Niemand gewahr wurde, wagte ich es, weiter zu forſchen. Da entdeckte ich am Rande des Grabmals eine friſch abgeſchnittene Locke. Auf einmal ſteigt in meiner Seele, ich weiß nicht wie, das Bild unſeres fernen Bruders Oreſtes auf, und mich ergreift eine Ahnung, daß er, nur er es ſey, von welchem dieſe Spur herrühre. Unter heimlichen Freudenthränen greife ich nach der Locke, und hier bringe ich ſie. Sie muß, ſie muß von des Bruders Haupte geſchnitten ſeyn!“
Elektra blieb bei dieſer unſicheren Kunde unglaubig ſitzen, und ſchüttelte das Haupt. „Ich bedaure dich deiner thörichten Leichtgläubigkeit wegen,“ ſprach ſie, „du weißeſt nicht, was ich weiß.“ Und nun erzählte ſie der Schweſter die ganze Botſchaft des Phociers, ſo daß der armen Chryſothemis, die ſich von Wort zu Wort mehr um ihre Hoffnung betrogen fand, nichts übrig blieb, als in den Weheruf Elektra's mit einzuſtimmen. „Ohne Zweifel,“ ſagte Elektra, „rührt die Locke von irgend einem theilnehmenden Freunde her, der dem jämmerlich umge¬ kommenen Bruder am Grabe des ermordeten Vaters ein Andenken ſtiften wollte!“ Und doch hatte ſich die Hel¬ denjungfrau unter dieſen Geſprächen wieder ermannt und machte der Schweſter den Vorſchlag: da die letzte Hoff¬ nung, den Vater durch die Hand des Sohnes zu rächen, mit Oreſtes erloſchen ſey, die große That gemeinſchaftlich
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lachend und weinend zugleich. „Höre, wie ich auf die
Spur der Wahrheit kam. Als ich an das überwachſene
Grab unſers Vaters kam, da ſah ich auf der Höhe
Spuren einer friſchen Opferſpende von Milch, und zu¬
gleich ſeine Ruheſtätte mit mancherlei Blumen bekränzt.
Staunend und ängſtlich durchſpähete ich den Ort, und
als ich Niemand gewahr wurde, wagte ich es, weiter
zu forſchen. Da entdeckte ich am Rande des Grabmals
eine friſch abgeſchnittene Locke. Auf einmal ſteigt in
meiner Seele, ich weiß nicht wie, das Bild unſeres
fernen Bruders Oreſtes auf, und mich ergreift eine
Ahnung, daß er, nur er es ſey, von welchem dieſe Spur
herrühre. Unter heimlichen Freudenthränen greife ich
nach der Locke, und hier bringe ich ſie. Sie muß, ſie
muß von des Bruders Haupte geſchnitten ſeyn!“
Elektra blieb bei dieſer unſicheren Kunde unglaubig
ſitzen, und ſchüttelte das Haupt. „Ich bedaure dich
deiner thörichten Leichtgläubigkeit wegen,“ ſprach ſie, „du
weißeſt nicht, was ich weiß.“ Und nun erzählte ſie
der Schweſter die ganze Botſchaft des Phociers, ſo daß
der armen Chryſothemis, die ſich von Wort zu Wort mehr
um ihre Hoffnung betrogen fand, nichts übrig blieb,
als in den Weheruf Elektra's mit einzuſtimmen. „Ohne
Zweifel,“ ſagte Elektra, „rührt die Locke von irgend einem
theilnehmenden Freunde her, der dem jämmerlich umge¬
kommenen Bruder am Grabe des ermordeten Vaters
ein Andenken ſtiften wollte!“ Und doch hatte ſich die Hel¬
denjungfrau unter dieſen Geſprächen wieder ermannt und
machte der Schweſter den Vorſchlag: da die letzte Hoff¬
nung, den Vater durch die Hand des Sohnes zu rächen,
mit Oreſtes erloſchen ſey, die große That gemeinſchaftlich
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/45>, abgerufen am 24.11.2024.
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