Die Halbgöttin Juturna aber stieß auf ihrer Flucht den Metiskus, den Wagenlenker ihres Bruders, vom Sitze, schwang sich in seiner Gestalt selbst zum Bruder empor, ergriff die Zügel, und schwirrte nun mit ihm wie eine Schwalbe mitten durch den Feind, bald da, bald dort ihn zeigend, dann wieder abwegs ihn führend, so daß Niemand ihn zum Kampf einholen konnte. Auf allen Wendungen verfolgte Aeneas den Flüchtigen, blieb ihm unaufhörlich auf der Spur und rief ihn durch zersprengte Geschwader von Feinden aus der Ferne zum Kampf herbei. So oft er aber nahe kam, drehte Juturna den Wagen auf die Seite, und ermüdete durch seine Beu¬ gungen den vergebens nachfolgenden Helden. Nun rannte der Latiner Mesapus, der eben zwei Speere in der Lin¬ ken wiegte, herbei, und schleuderte einen davon mit sicherem Schwunge dem Trojaner entgegen. Aeneas stand stille, sammelte sich in die Rüstung und bückte sich ins Knie. Der Speer fuhr über ihn hin, doch so, daß er ihm den Helmbusch vom Scheitel stieß. Da rief Aeneas die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bundes auf und stürzte sich zum schonungslosen Morde tief unter die Feinde.
Dann legte ihm seine Mutter Venus den Anschlag ins Herz, ohne Verzug seine Streitmacht seitwärts zu wenden und die Latiner durch unerwartete Noth in Ver¬ wirrung zu setzen. Während er den dahin rollenden Wagen des Turnus noch immer verfolgte, fiel sein Blick auf die Mauern, und er sah sich die Stadt an, die noch immer unberührt vom Kriege, verschont und in Ruhe dalag. Plötzlich rief er seine Helden Mnestheus, Sergestus und Serestus herbei und besetzte die Höhen;
Die Halbgöttin Juturna aber ſtieß auf ihrer Flucht den Metiskus, den Wagenlenker ihres Bruders, vom Sitze, ſchwang ſich in ſeiner Geſtalt ſelbſt zum Bruder empor, ergriff die Zügel, und ſchwirrte nun mit ihm wie eine Schwalbe mitten durch den Feind, bald da, bald dort ihn zeigend, dann wieder abwegs ihn führend, ſo daß Niemand ihn zum Kampf einholen konnte. Auf allen Wendungen verfolgte Aeneas den Flüchtigen, blieb ihm unaufhörlich auf der Spur und rief ihn durch zerſprengte Geſchwader von Feinden aus der Ferne zum Kampf herbei. So oft er aber nahe kam, drehte Juturna den Wagen auf die Seite, und ermüdete durch ſeine Beu¬ gungen den vergebens nachfolgenden Helden. Nun rannte der Latiner Meſapus, der eben zwei Speere in der Lin¬ ken wiegte, herbei, und ſchleuderte einen davon mit ſicherem Schwunge dem Trojaner entgegen. Aeneas ſtand ſtille, ſammelte ſich in die Rüſtung und bückte ſich ins Knie. Der Speer fuhr über ihn hin, doch ſo, daß er ihm den Helmbuſch vom Scheitel ſtieß. Da rief Aeneas die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bundes auf und ſtürzte ſich zum ſchonungsloſen Morde tief unter die Feinde.
Dann legte ihm ſeine Mutter Venus den Anſchlag ins Herz, ohne Verzug ſeine Streitmacht ſeitwärts zu wenden und die Latiner durch unerwartete Noth in Ver¬ wirrung zu ſetzen. Während er den dahin rollenden Wagen des Turnus noch immer verfolgte, fiel ſein Blick auf die Mauern, und er ſah ſich die Stadt an, die noch immer unberührt vom Kriege, verſchont und in Ruhe dalag. Plötzlich rief er ſeine Helden Mneſtheus, Sergeſtus und Sereſtus herbei und beſetzte die Höhen;
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0451"n="429"/>
Die Halbgöttin Juturna aber ſtieß auf ihrer Flucht den<lb/>
Metiskus, den Wagenlenker ihres Bruders, vom Sitze,<lb/>ſchwang ſich in ſeiner Geſtalt ſelbſt zum Bruder empor,<lb/>
ergriff die Zügel, und ſchwirrte nun mit ihm wie eine<lb/>
Schwalbe mitten durch den Feind, bald da, bald dort<lb/>
ihn zeigend, dann wieder abwegs ihn führend, ſo daß<lb/>
Niemand ihn zum Kampf einholen konnte. Auf allen<lb/>
Wendungen verfolgte Aeneas den Flüchtigen, blieb ihm<lb/>
unaufhörlich auf der Spur und rief ihn durch zerſprengte<lb/>
Geſchwader von Feinden aus der Ferne zum Kampf<lb/>
herbei. So oft er aber nahe kam, drehte Juturna den<lb/>
Wagen auf die Seite, und ermüdete durch ſeine Beu¬<lb/>
gungen den vergebens nachfolgenden Helden. Nun rannte<lb/>
der Latiner Meſapus, der eben zwei Speere in der Lin¬<lb/>
ken wiegte, herbei, und ſchleuderte einen davon mit<lb/>ſicherem Schwunge dem Trojaner entgegen. Aeneas<lb/>ſtand ſtille, ſammelte ſich in die Rüſtung und bückte ſich<lb/>
ins Knie. Der Speer fuhr über ihn hin, doch ſo, daß<lb/>
er ihm den Helmbuſch vom Scheitel ſtieß. Da rief<lb/>
Aeneas die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bundes<lb/>
auf und ſtürzte ſich zum ſchonungsloſen Morde tief unter<lb/>
die Feinde.</p><lb/><p>Dann legte ihm ſeine Mutter Venus den Anſchlag<lb/>
ins Herz, ohne Verzug ſeine Streitmacht ſeitwärts zu<lb/>
wenden und die Latiner durch unerwartete Noth in Ver¬<lb/>
wirrung zu ſetzen. Während er den dahin rollenden<lb/>
Wagen des Turnus noch immer verfolgte, fiel ſein Blick<lb/>
auf die Mauern, und er ſah ſich die Stadt an, die<lb/>
noch immer unberührt vom Kriege, verſchont und in<lb/>
Ruhe dalag. Plötzlich rief er ſeine Helden Mneſtheus,<lb/>
Sergeſtus und Sereſtus herbei und beſetzte die Höhen;<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[429/0451]
Die Halbgöttin Juturna aber ſtieß auf ihrer Flucht den
Metiskus, den Wagenlenker ihres Bruders, vom Sitze,
ſchwang ſich in ſeiner Geſtalt ſelbſt zum Bruder empor,
ergriff die Zügel, und ſchwirrte nun mit ihm wie eine
Schwalbe mitten durch den Feind, bald da, bald dort
ihn zeigend, dann wieder abwegs ihn führend, ſo daß
Niemand ihn zum Kampf einholen konnte. Auf allen
Wendungen verfolgte Aeneas den Flüchtigen, blieb ihm
unaufhörlich auf der Spur und rief ihn durch zerſprengte
Geſchwader von Feinden aus der Ferne zum Kampf
herbei. So oft er aber nahe kam, drehte Juturna den
Wagen auf die Seite, und ermüdete durch ſeine Beu¬
gungen den vergebens nachfolgenden Helden. Nun rannte
der Latiner Meſapus, der eben zwei Speere in der Lin¬
ken wiegte, herbei, und ſchleuderte einen davon mit
ſicherem Schwunge dem Trojaner entgegen. Aeneas
ſtand ſtille, ſammelte ſich in die Rüſtung und bückte ſich
ins Knie. Der Speer fuhr über ihn hin, doch ſo, daß
er ihm den Helmbuſch vom Scheitel ſtieß. Da rief
Aeneas die Götter zu Zeugen des gebrochenen Bundes
auf und ſtürzte ſich zum ſchonungsloſen Morde tief unter
die Feinde.
Dann legte ihm ſeine Mutter Venus den Anſchlag
ins Herz, ohne Verzug ſeine Streitmacht ſeitwärts zu
wenden und die Latiner durch unerwartete Noth in Ver¬
wirrung zu ſetzen. Während er den dahin rollenden
Wagen des Turnus noch immer verfolgte, fiel ſein Blick
auf die Mauern, und er ſah ſich die Stadt an, die
noch immer unberührt vom Kriege, verſchont und in
Ruhe dalag. Plötzlich rief er ſeine Helden Mneſtheus,
Sergeſtus und Sereſtus herbei und beſetzte die Höhen;
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/451>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.