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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Das pontisch-armenische Gestade-Land.
Freiheit in jeder Art von Zügellosigkeit. Daß derjenige der
Freieste sei, welcher dem Gesetze sich zu unterordnen verstehe,
konnte für die Helden Daghestans und der Kabarda wohl nur
ein unverständliches Theorem bleiben, abgesehen davon, daß selbst
die einzelnen Autonomien nichts von dem besaßen, was man
gemeinhin unter bürgerlicher Freiheit versteht. Thatsächlich
kämpften die kaukasischen Bergvölker durch Jahrzehnte um eine
Unabhängigkeit, die sie ihrer innersten Organisation nach niemals
besaßen. Wo es in der Bergwildniß noch einen Clan gab, der
von russischen Soldaten nicht bezwungen war, da herrschte der
"Psech", der Fürst, unumschränkt und despotisch wie kein Winkel-
tyrann in den centralasiatischen Khanaten. Die Leibeigenschaft
der untern Classe war eine so drückende1, wie niemals zuvor
in dem benachbarten Rußland, und wenn dennoch die Bergvölker
gegen den fremden Eindringling ihren Boden mit seltenem Helden-
muthe vertheidigten, so war's einerseits wilder Trotz, anderseits
der Hang zu gesetzlosen Zuständen und drittens die leidenschaft-
liche Neigung zum Kampfe. Wie wenig Rußland selbst willens
war, sich der beispiellos verwilderten Bergstämme anzunehmen,
beweist schon nachfolgende Thatsache in hinlänglichem Maße.
Als im Jahre 1864 Großfürst Michael die letzten Tscherkessen-
stämme im westlichen Kaukasus niedergeworfen hatte, stellte es
die Regierung denselben frei, sich entweder den russischen
Gesetzen zu fügen oder das Land und das Gesammtreich zu ver-
lassen. Damals leisteten nahezu 300,000 Tscherkessen, Abchasen
und Kabardiner der letzteren Aufforderung Folge, indem gleich-
zeitig die türkische Regierung sich bereit erklärte, die Emigranten
gastfreundlich aufzunehmen. Daß das russische Gesetz noch immer
besser war, als die Hospitalität der rechtgläubigen Brüder in
der Türkei, sollten die damaligen Emigranten nur zu bald er-
fahren. Die zahllosen Dampfer, welche wunderlicher Weise die
russische Regierung selbst beigestellt hatte, setzten binnen wenigen
Wochen die Emigranten an der türkischen Pontusküste ab, und
zwar zuerst in Trapezunt. Hier ward ihr Erscheinen bald zu
einer furchtbaren Invasion. Gleich riesigen Heuschreckenschwärmen
occupirten sie provisorisch alles Land umher, nur nothdürftig

1 v. Berg, "Türkische Tscherkessen", in d. "Wien. Abendpost", 1876.

Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
Freiheit in jeder Art von Zügelloſigkeit. Daß derjenige der
Freieſte ſei, welcher dem Geſetze ſich zu unterordnen verſtehe,
konnte für die Helden Dagheſtans und der Kabarda wohl nur
ein unverſtändliches Theorem bleiben, abgeſehen davon, daß ſelbſt
die einzelnen Autonomien nichts von dem beſaßen, was man
gemeinhin unter bürgerlicher Freiheit verſteht. Thatſächlich
kämpften die kaukaſiſchen Bergvölker durch Jahrzehnte um eine
Unabhängigkeit, die ſie ihrer innerſten Organiſation nach niemals
beſaßen. Wo es in der Bergwildniß noch einen Clan gab, der
von ruſſiſchen Soldaten nicht bezwungen war, da herrſchte der
„Pſech“, der Fürſt, unumſchränkt und despotiſch wie kein Winkel-
tyrann in den centralaſiatiſchen Khanaten. Die Leibeigenſchaft
der untern Claſſe war eine ſo drückende1, wie niemals zuvor
in dem benachbarten Rußland, und wenn dennoch die Bergvölker
gegen den fremden Eindringling ihren Boden mit ſeltenem Helden-
muthe vertheidigten, ſo war’s einerſeits wilder Trotz, anderſeits
der Hang zu geſetzloſen Zuſtänden und drittens die leidenſchaft-
liche Neigung zum Kampfe. Wie wenig Rußland ſelbſt willens
war, ſich der beiſpiellos verwilderten Bergſtämme anzunehmen,
beweiſt ſchon nachfolgende Thatſache in hinlänglichem Maße.
Als im Jahre 1864 Großfürſt Michael die letzten Tſcherkeſſen-
ſtämme im weſtlichen Kaukaſus niedergeworfen hatte, ſtellte es
die Regierung denſelben frei, ſich entweder den ruſſiſchen
Geſetzen zu fügen oder das Land und das Geſammtreich zu ver-
laſſen. Damals leiſteten nahezu 300,000 Tſcherkeſſen, Abchaſen
und Kabardiner der letzteren Aufforderung Folge, indem gleich-
zeitig die türkiſche Regierung ſich bereit erklärte, die Emigranten
gaſtfreundlich aufzunehmen. Daß das ruſſiſche Geſetz noch immer
beſſer war, als die Hospitalität der rechtgläubigen Brüder in
der Türkei, ſollten die damaligen Emigranten nur zu bald er-
fahren. Die zahlloſen Dampfer, welche wunderlicher Weiſe die
ruſſiſche Regierung ſelbſt beigeſtellt hatte, ſetzten binnen wenigen
Wochen die Emigranten an der türkiſchen Pontusküſte ab, und
zwar zuerſt in Trapezunt. Hier ward ihr Erſcheinen bald zu
einer furchtbaren Invaſion. Gleich rieſigen Heuſchreckenſchwärmen
occupirten ſie proviſoriſch alles Land umher, nur nothdürftig

1 v. Berg, „Türkiſche Tſcherkeſſen“, in d. „Wien. Abendpoſt“, 1876.
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[80/0112] Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land. Freiheit in jeder Art von Zügelloſigkeit. Daß derjenige der Freieſte ſei, welcher dem Geſetze ſich zu unterordnen verſtehe, konnte für die Helden Dagheſtans und der Kabarda wohl nur ein unverſtändliches Theorem bleiben, abgeſehen davon, daß ſelbſt die einzelnen Autonomien nichts von dem beſaßen, was man gemeinhin unter bürgerlicher Freiheit verſteht. Thatſächlich kämpften die kaukaſiſchen Bergvölker durch Jahrzehnte um eine Unabhängigkeit, die ſie ihrer innerſten Organiſation nach niemals beſaßen. Wo es in der Bergwildniß noch einen Clan gab, der von ruſſiſchen Soldaten nicht bezwungen war, da herrſchte der „Pſech“, der Fürſt, unumſchränkt und despotiſch wie kein Winkel- tyrann in den centralaſiatiſchen Khanaten. Die Leibeigenſchaft der untern Claſſe war eine ſo drückende 1, wie niemals zuvor in dem benachbarten Rußland, und wenn dennoch die Bergvölker gegen den fremden Eindringling ihren Boden mit ſeltenem Helden- muthe vertheidigten, ſo war’s einerſeits wilder Trotz, anderſeits der Hang zu geſetzloſen Zuſtänden und drittens die leidenſchaft- liche Neigung zum Kampfe. Wie wenig Rußland ſelbſt willens war, ſich der beiſpiellos verwilderten Bergſtämme anzunehmen, beweiſt ſchon nachfolgende Thatſache in hinlänglichem Maße. Als im Jahre 1864 Großfürſt Michael die letzten Tſcherkeſſen- ſtämme im weſtlichen Kaukaſus niedergeworfen hatte, ſtellte es die Regierung denſelben frei, ſich entweder den ruſſiſchen Geſetzen zu fügen oder das Land und das Geſammtreich zu ver- laſſen. Damals leiſteten nahezu 300,000 Tſcherkeſſen, Abchaſen und Kabardiner der letzteren Aufforderung Folge, indem gleich- zeitig die türkiſche Regierung ſich bereit erklärte, die Emigranten gaſtfreundlich aufzunehmen. Daß das ruſſiſche Geſetz noch immer beſſer war, als die Hospitalität der rechtgläubigen Brüder in der Türkei, ſollten die damaligen Emigranten nur zu bald er- fahren. Die zahlloſen Dampfer, welche wunderlicher Weiſe die ruſſiſche Regierung ſelbſt beigeſtellt hatte, ſetzten binnen wenigen Wochen die Emigranten an der türkiſchen Pontusküſte ab, und zwar zuerſt in Trapezunt. Hier ward ihr Erſcheinen bald zu einer furchtbaren Invaſion. Gleich rieſigen Heuſchreckenſchwärmen occupirten ſie proviſoriſch alles Land umher, nur nothdürftig 1 v. Berg, „Türkiſche Tſcherkeſſen“, in d. „Wien. Abendpoſt“, 1876.

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/112>, abgerufen am 24.11.2024.