Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.Ueberblick auf Gesammt-Armenien. Friedhof wird noch immer als die Stelle bezeichnet, wo ganzeSchaaren von Kindern durch Temurs Reiterei in den Boden gestampft wurden 1. Welch ungeheueren Rückschlag all' diese ungeheuerlichen Schandthaten auf Land und Volk ausüben mußten, ist um so leichter zu begreifen, wenn man erwägt, daß gerade der rührigste, intelligenteste Theil der Bewohnerschaft, die Ar- menier, nahezu ausgerottet wurden, indeß die Moslims, unein- gedenk der mit knapper Noth erlangten Schonung, das Werk der Verfolgung und Bedrückung des elenden christlichen Restes mit viel Behagen fortgesetzt zu haben scheinen. Es wäre ja im Gegenfalle nimmer zu begreifen, weshalb Siwas, das ja durch seine geographische Lage und am Kreuzungspunkte zweier großer Handelswege alle Bedingungen zur Prosperität hatte, aus seiner Versumpfung und Armuth sich niemals aufzurütteln wußte. Das einzige ältere Bauwerk, das sich in der Stadt erhalten hat, ist die steinerne Bogenbrücke aus der Zeit des armenischen Königs Senekherim, dem Orpelier, datirt also aus der Zeit der Emi- gration dieses Geschlechtes aus Vaspurakhan nach Klein-Armenien oder dem oberen Halys-Plateau. Alles Uebrige ist entweder Ruine oder unansehnlicher Holzbau, will man die viel älteren Ornamentplatten und sonstigen architektonischen Schmuck, der in einzelnen Moscheen und Kirchen verbaut ist, nicht gelten lassen 2. Wenn nun vollends der hier in der Regel äußerst strenge Winter die einsame Plateaustadt heimsucht, so liegt sie während vieler Monate hindurch in mannshohen Schnee vergraben, und der Nachbar muß sich zum Nachbar mühsam den Weg durch die Niederschlagsmasse bahnen 3. Hiezu kommt noch, daß die Re- gierung in diesem Lande, in Nachbarschaft des unwirthlichen Anti-Taurus, niemals eine entscheidende Autorität besaß. Wer auch in aller Welt würde Lust verspüren, sich mit den Afscharen, 1 Auch in Damascus ließ der heuchlerische Schiite auf diese Art 10,000 Kinder aus der Welt schaffen. Die große Moschee, welche dem Kadi als Zufluchtsort angewiesen wurde, füllte sich nach und nach mit 30,000 Flüchtlingen. Sie wurde, als Niemand mehr darin Aufnahme finden konnte, von den Tartaren mit Holz zugebaut und den Flammen übergeben. (Braun, a. a. O., 127.) 2 Sandreczki, "Reise nach Mossul", I, 110. 3 v. Moltke, "Briefe über die Türkei", 208.
Ueberblick auf Geſammt-Armenien. Friedhof wird noch immer als die Stelle bezeichnet, wo ganzeSchaaren von Kindern durch Temurs Reiterei in den Boden geſtampft wurden 1. Welch ungeheueren Rückſchlag all’ dieſe ungeheuerlichen Schandthaten auf Land und Volk ausüben mußten, iſt um ſo leichter zu begreifen, wenn man erwägt, daß gerade der rührigſte, intelligenteſte Theil der Bewohnerſchaft, die Ar- menier, nahezu ausgerottet wurden, indeß die Moslims, unein- gedenk der mit knapper Noth erlangten Schonung, das Werk der Verfolgung und Bedrückung des elenden chriſtlichen Reſtes mit viel Behagen fortgeſetzt zu haben ſcheinen. Es wäre ja im Gegenfalle nimmer zu begreifen, weshalb Siwas, das ja durch ſeine geographiſche Lage und am Kreuzungspunkte zweier großer Handelswege alle Bedingungen zur Prosperität hatte, aus ſeiner Verſumpfung und Armuth ſich niemals aufzurütteln wußte. Das einzige ältere Bauwerk, das ſich in der Stadt erhalten hat, iſt die ſteinerne Bogenbrücke aus der Zeit des armeniſchen Königs Senekherim, dem Orpelier, datirt alſo aus der Zeit der Emi- gration dieſes Geſchlechtes aus Vaspurakhan nach Klein-Armenien oder dem oberen Halys-Plateau. Alles Uebrige iſt entweder Ruine oder unanſehnlicher Holzbau, will man die viel älteren Ornamentplatten und ſonſtigen architektoniſchen Schmuck, der in einzelnen Moſcheen und Kirchen verbaut iſt, nicht gelten laſſen 2. Wenn nun vollends der hier in der Regel äußerſt ſtrenge Winter die einſame Plateauſtadt heimſucht, ſo liegt ſie während vieler Monate hindurch in mannshohen Schnee vergraben, und der Nachbar muß ſich zum Nachbar mühſam den Weg durch die Niederſchlagsmaſſe bahnen 3. Hiezu kommt noch, daß die Re- gierung in dieſem Lande, in Nachbarſchaft des unwirthlichen Anti-Taurus, niemals eine entſcheidende Autorität beſaß. Wer auch in aller Welt würde Luſt verſpüren, ſich mit den Afſcharen, 1 Auch in Damascus ließ der heuchleriſche Schiite auf dieſe Art 10,000 Kinder aus der Welt ſchaffen. Die große Moſchee, welche dem Kadi als Zufluchtsort angewieſen wurde, füllte ſich nach und nach mit 30,000 Flüchtlingen. Sie wurde, als Niemand mehr darin Aufnahme finden konnte, von den Tartaren mit Holz zugebaut und den Flammen übergeben. (Braun, a. a. O., 127.) 2 Sandreczki, „Reiſe nach Moſſul“, I, 110. 3 v. Moltke, „Briefe über die Türkei“, 208.
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Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
Friedhof wird noch immer als die Stelle bezeichnet, wo ganze
Schaaren von Kindern durch Temurs Reiterei in den Boden
geſtampft wurden 1. Welch ungeheueren Rückſchlag all’ dieſe
ungeheuerlichen Schandthaten auf Land und Volk ausüben mußten,
iſt um ſo leichter zu begreifen, wenn man erwägt, daß gerade
der rührigſte, intelligenteſte Theil der Bewohnerſchaft, die Ar-
menier, nahezu ausgerottet wurden, indeß die Moslims, unein-
gedenk der mit knapper Noth erlangten Schonung, das Werk
der Verfolgung und Bedrückung des elenden chriſtlichen Reſtes
mit viel Behagen fortgeſetzt zu haben ſcheinen. Es wäre ja im
Gegenfalle nimmer zu begreifen, weshalb Siwas, das ja durch
ſeine geographiſche Lage und am Kreuzungspunkte zweier großer
Handelswege alle Bedingungen zur Prosperität hatte, aus ſeiner
Verſumpfung und Armuth ſich niemals aufzurütteln wußte.
Das einzige ältere Bauwerk, das ſich in der Stadt erhalten hat,
iſt die ſteinerne Bogenbrücke aus der Zeit des armeniſchen Königs
Senekherim, dem Orpelier, datirt alſo aus der Zeit der Emi-
gration dieſes Geſchlechtes aus Vaspurakhan nach Klein-Armenien
oder dem oberen Halys-Plateau. Alles Uebrige iſt entweder
Ruine oder unanſehnlicher Holzbau, will man die viel älteren
Ornamentplatten und ſonſtigen architektoniſchen Schmuck, der in
einzelnen Moſcheen und Kirchen verbaut iſt, nicht gelten laſſen 2.
Wenn nun vollends der hier in der Regel äußerſt ſtrenge Winter
die einſame Plateauſtadt heimſucht, ſo liegt ſie während vieler
Monate hindurch in mannshohen Schnee vergraben, und der
Nachbar muß ſich zum Nachbar mühſam den Weg durch die
Niederſchlagsmaſſe bahnen 3. Hiezu kommt noch, daß die Re-
gierung in dieſem Lande, in Nachbarſchaft des unwirthlichen
Anti-Taurus, niemals eine entſcheidende Autorität beſaß. Wer
auch in aller Welt würde Luſt verſpüren, ſich mit den Afſcharen,
1 Auch in Damascus ließ der heuchleriſche Schiite auf dieſe Art
10,000 Kinder aus der Welt ſchaffen. Die große Moſchee, welche dem
Kadi als Zufluchtsort angewieſen wurde, füllte ſich nach und nach mit
30,000 Flüchtlingen. Sie wurde, als Niemand mehr darin Aufnahme
finden konnte, von den Tartaren mit Holz zugebaut und den Flammen
übergeben. (Braun, a. a. O., 127.)
2 Sandreczki, „Reiſe nach Moſſul“, I, 110.
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