Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_094.001
so verteilt, daß der Blick heimlich gelenkt wird nach pse_094.002
dem Ziel, das dem Dichter als die Vollendung des Daseins pse_094.003
erscheint" (Spoerri).

pse_094.004
IV pse_094.005
DIE MENSCHLICH-DICHTERISCHEN pse_094.006
AUFFASSUNGSWEISEN DER WELT

pse_094.007
Auf einer höheren Ebene treffen sich Mensch und Wirklichkeit pse_094.008
in der Dichtung, wenn wir fragen, wie sich ihre Begegnung pse_094.009
auswirkt. Und zwar auf den Menschen, der der Welt pse_094.010
begegnet, und auch auf die Wirklichkeit, die der bestimmt pse_094.011
geartete Mensch erlebt und aus dem Erleben für sich geistig pse_094.012
formt. Wir kommen hier zu den Fragen -- um andeutend nur pse_094.013
einige zu streifen -- der Tragik, des Humors, der Komik, der pse_094.014
Groteske usw.

pse_094.015
Dabei ist folgender entwicklungsgeschichtlicher Tatbestand pse_094.016
festzuhalten: Bei den zu besprechenden Auffassungsweisen pse_094.017
handelt es sich zunächst um solche, die in den Dichtungen pse_094.018
gestaltet sind. Die Haltung des Tragischen z. B. ist also zunächst pse_094.019
nur in den Tragödien vorhanden. Da der Mensch aber pse_094.020
aus der tiefen Einsicht in die Welt, die er aus der Dichtung pse_094.021
schöpft, bestimmte Haltungen und Weltzusammenhänge pse_094.022
erahnt, werden diese dann auch im Leben selbst erfahren, man pse_094.023
erlebt Tragisches im Leben, in der sogenannten Realität; und pse_094.024
damit setzt dann auch die philosophische, vor allem die metaphysische pse_094.025
Betrachtung dieser Zusammenhänge ein. Hier, in pse_094.026
einer Poetik, wollen wir bei Betrachtung dieser Auffassungsweisen pse_094.027
immer so eng als möglich im Rahmen der Dichtung pse_094.028
bleiben.

pse_094.029
Ein System dieser Auffassungsweisen ist kaum zu schaffen. pse_094.030
Die Möglichkeiten der dichterischen Weltauffassung sind so pse_094.031
mannigfaltig und vor allem so verschlungen, daß jeder Versuch pse_094.032
eines Systems als rationales Gerüst gegenüber Kunst und pse_094.033
Leben scheitern muß. Es ist uns darum zu tun, eine möglichst

pse_094.001
so verteilt, daß der Blick heimlich gelenkt wird nach pse_094.002
dem Ziel, das dem Dichter als die Vollendung des Daseins pse_094.003
erscheint« (Spoerri).

pse_094.004
IV pse_094.005
DIE MENSCHLICH-DICHTERISCHEN pse_094.006
AUFFASSUNGSWEISEN DER WELT

pse_094.007
Auf einer höheren Ebene treffen sich Mensch und Wirklichkeit pse_094.008
in der Dichtung, wenn wir fragen, wie sich ihre Begegnung pse_094.009
auswirkt. Und zwar auf den Menschen, der der Welt pse_094.010
begegnet, und auch auf die Wirklichkeit, die der bestimmt pse_094.011
geartete Mensch erlebt und aus dem Erleben für sich geistig pse_094.012
formt. Wir kommen hier zu den Fragen — um andeutend nur pse_094.013
einige zu streifen — der Tragik, des Humors, der Komik, der pse_094.014
Groteske usw.

pse_094.015
Dabei ist folgender entwicklungsgeschichtlicher Tatbestand pse_094.016
festzuhalten: Bei den zu besprechenden Auffassungsweisen pse_094.017
handelt es sich zunächst um solche, die in den Dichtungen pse_094.018
gestaltet sind. Die Haltung des Tragischen z. B. ist also zunächst pse_094.019
nur in den Tragödien vorhanden. Da der Mensch aber pse_094.020
aus der tiefen Einsicht in die Welt, die er aus der Dichtung pse_094.021
schöpft, bestimmte Haltungen und Weltzusammenhänge pse_094.022
erahnt, werden diese dann auch im Leben selbst erfahren, man pse_094.023
erlebt Tragisches im Leben, in der sogenannten Realität; und pse_094.024
damit setzt dann auch die philosophische, vor allem die metaphysische pse_094.025
Betrachtung dieser Zusammenhänge ein. Hier, in pse_094.026
einer Poetik, wollen wir bei Betrachtung dieser Auffassungsweisen pse_094.027
immer so eng als möglich im Rahmen der Dichtung pse_094.028
bleiben.

pse_094.029
Ein System dieser Auffassungsweisen ist kaum zu schaffen. pse_094.030
Die Möglichkeiten der dichterischen Weltauffassung sind so pse_094.031
mannigfaltig und vor allem so verschlungen, daß jeder Versuch pse_094.032
eines Systems als rationales Gerüst gegenüber Kunst und pse_094.033
Leben scheitern muß. Es ist uns darum zu tun, eine möglichst

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0110" n="94"/><lb n="pse_094.001"/>
so verteilt, daß der Blick heimlich gelenkt wird nach <lb n="pse_094.002"/>
dem Ziel, das dem Dichter als die Vollendung des Daseins <lb n="pse_094.003"/>
erscheint« (Spoerri).</p>
          </div>
        </div>
        <lb n="pse_094.004"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#c">IV <lb n="pse_094.005"/> <hi rendition="#g">DIE MENSCHLICH-DICHTERISCHEN <lb n="pse_094.006"/>
AUFFASSUNGSWEISEN DER WELT</hi></hi> </head>
          <p><lb n="pse_094.007"/>
Auf einer höheren Ebene treffen sich Mensch und Wirklichkeit <lb n="pse_094.008"/>
in der Dichtung, wenn wir fragen, wie sich ihre Begegnung <lb n="pse_094.009"/>
auswirkt. Und zwar auf den Menschen, der der Welt <lb n="pse_094.010"/>
begegnet, und auch auf die Wirklichkeit, die der bestimmt <lb n="pse_094.011"/>
geartete Mensch erlebt und aus dem Erleben für sich geistig <lb n="pse_094.012"/>
formt. Wir kommen hier zu den Fragen &#x2014; um andeutend nur <lb n="pse_094.013"/>
einige zu streifen &#x2014; der Tragik, des Humors, der Komik, der <lb n="pse_094.014"/>
Groteske usw.</p>
          <p><lb n="pse_094.015"/>
Dabei ist folgender entwicklungsgeschichtlicher Tatbestand <lb n="pse_094.016"/>
festzuhalten: Bei den zu besprechenden Auffassungsweisen <lb n="pse_094.017"/>
handelt es sich zunächst um solche, die in den Dichtungen <lb n="pse_094.018"/>
gestaltet sind. Die Haltung des Tragischen z. B. ist also zunächst <lb n="pse_094.019"/>
nur in den Tragödien vorhanden. Da der Mensch aber <lb n="pse_094.020"/>
aus der tiefen Einsicht in die Welt, die er aus der Dichtung <lb n="pse_094.021"/>
schöpft, bestimmte Haltungen und Weltzusammenhänge <lb n="pse_094.022"/>
erahnt, werden diese dann auch im Leben selbst erfahren, man <lb n="pse_094.023"/>
erlebt Tragisches im Leben, in der sogenannten Realität; und <lb n="pse_094.024"/>
damit setzt dann auch die philosophische, vor allem die metaphysische <lb n="pse_094.025"/>
Betrachtung dieser Zusammenhänge ein. Hier, in <lb n="pse_094.026"/>
einer Poetik, wollen wir bei Betrachtung dieser Auffassungsweisen <lb n="pse_094.027"/>
immer so eng als möglich im Rahmen der Dichtung <lb n="pse_094.028"/>
bleiben.</p>
          <p><lb n="pse_094.029"/>
Ein System dieser Auffassungsweisen ist kaum zu schaffen. <lb n="pse_094.030"/>
Die Möglichkeiten der dichterischen Weltauffassung sind so <lb n="pse_094.031"/>
mannigfaltig und vor allem so verschlungen, daß jeder Versuch <lb n="pse_094.032"/>
eines Systems als rationales Gerüst gegenüber Kunst und <lb n="pse_094.033"/>
Leben scheitern muß. Es ist uns darum zu tun, eine möglichst
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[94/0110] pse_094.001 so verteilt, daß der Blick heimlich gelenkt wird nach pse_094.002 dem Ziel, das dem Dichter als die Vollendung des Daseins pse_094.003 erscheint« (Spoerri). pse_094.004 IV pse_094.005 DIE MENSCHLICH-DICHTERISCHEN pse_094.006 AUFFASSUNGSWEISEN DER WELT pse_094.007 Auf einer höheren Ebene treffen sich Mensch und Wirklichkeit pse_094.008 in der Dichtung, wenn wir fragen, wie sich ihre Begegnung pse_094.009 auswirkt. Und zwar auf den Menschen, der der Welt pse_094.010 begegnet, und auch auf die Wirklichkeit, die der bestimmt pse_094.011 geartete Mensch erlebt und aus dem Erleben für sich geistig pse_094.012 formt. Wir kommen hier zu den Fragen — um andeutend nur pse_094.013 einige zu streifen — der Tragik, des Humors, der Komik, der pse_094.014 Groteske usw. pse_094.015 Dabei ist folgender entwicklungsgeschichtlicher Tatbestand pse_094.016 festzuhalten: Bei den zu besprechenden Auffassungsweisen pse_094.017 handelt es sich zunächst um solche, die in den Dichtungen pse_094.018 gestaltet sind. Die Haltung des Tragischen z. B. ist also zunächst pse_094.019 nur in den Tragödien vorhanden. Da der Mensch aber pse_094.020 aus der tiefen Einsicht in die Welt, die er aus der Dichtung pse_094.021 schöpft, bestimmte Haltungen und Weltzusammenhänge pse_094.022 erahnt, werden diese dann auch im Leben selbst erfahren, man pse_094.023 erlebt Tragisches im Leben, in der sogenannten Realität; und pse_094.024 damit setzt dann auch die philosophische, vor allem die metaphysische pse_094.025 Betrachtung dieser Zusammenhänge ein. Hier, in pse_094.026 einer Poetik, wollen wir bei Betrachtung dieser Auffassungsweisen pse_094.027 immer so eng als möglich im Rahmen der Dichtung pse_094.028 bleiben. pse_094.029 Ein System dieser Auffassungsweisen ist kaum zu schaffen. pse_094.030 Die Möglichkeiten der dichterischen Weltauffassung sind so pse_094.031 mannigfaltig und vor allem so verschlungen, daß jeder Versuch pse_094.032 eines Systems als rationales Gerüst gegenüber Kunst und pse_094.033 Leben scheitern muß. Es ist uns darum zu tun, eine möglichst

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/110
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/110>, abgerufen am 18.12.2024.