pse_103.001 Im Zeitalter des aufkommenden Bürgertums, also im pse_103.002 19. Jahrhundert vor allem, wird dann dieser Blick neuerlich pse_103.003 wichtig: nicht mehr das Dasein des Menschen wird tragisch pse_103.004 erlebt, sondern seine sittliche Haltung: entweder wird das pse_103.005 Tragische versittlicht oder sittliche Fragen werden ins Tragische pse_103.006 hineingezogen; das endet im sittlichen Relativismus, pse_103.007 wo jeder sittlich recht hat. Aber von sittlicher Schuld im pse_103.008 genauen Sinn des Wortes ist im Tragischen nicht die Rede. pse_103.009 Schon Aristoteles spricht nicht von sittlicher Schuld, sondern pse_103.010 von einer hamartia, einem Verfehlen, das subjektiv nicht anrechenbar pse_103.011 ist, aber objektiv einfach besteht. So deutlich in pse_103.012 der Schuld des Ödipus. Diesem Verfehlen liegt die Gefährdetheit pse_103.013 des Menschen zugrunde, und diese erschüttert uns. Es pse_103.014 kann das Dasein des Menschen selbst schon Schuld sein, durch pse_103.015 seine Herkunft (z. B. Antigone) oder durch das Sosein eines pse_103.016 bestimmten Charakters (Hamlet); aber auch die Handlung pse_103.017 des Menschen kann ein Verfehlen sein, etwa durch Verletzung pse_103.018 höchster Gesetze (so im "Ödipus"), endlich kann pse_103.019 auch eine sittlich notwendige Handlung Schuld werden.
pse_103.020 Nun aber tritt uns ein großes, vielleicht das entscheidende pse_103.021 Problem im Bereich des Tragischen entgegen. Es beginnt pse_103.022 mit der Frage: was treibt den Menschen zu solchen Erlebnissen pse_103.023 der tiefsten Erschütterung in der Kunst? Warum lesen pse_103.024 wir tragische Romane und Tragödien, warum gehen wir ins pse_103.025 Theater, um uns aufs tiefste erschüttern zu lassen? Daß gerade pse_103.026 tiefer veranlagte Menschen, ganz gleichgültig welcher pse_103.027 Berufe, zu solchen Dichtungen greifen, ist Tatsache. Wir pse_103.028 wissen, daß Schiller ganz klar auch diese Frage erörtert hat: pse_103.029 "Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen." pse_103.030 Aus dem Wesen des Tragischen als einer tiefen Erschütterung pse_103.031 über die Daseinsbedrohung ergibt sich eine genauere pse_103.032 Fassung der Frage. Der Mensch ist in solchen Situationen pse_103.033 in eine Entscheidung gestellt: wie geschieht das Durchhalten pse_103.034 der tragischen Erschütterung? Wir stoßen damit auf pse_103.035 das Erlebnis der Katharsis, das ja auch, seit Aristoteles dieses pse_103.036 Wort in die Debatte geworfen hat, viel Staub aufgewirbelt pse_103.037 hat.
pse_103.038 Vor allem wollen wir festhalten, daß es sich in all diesen
pse_103.001 Im Zeitalter des aufkommenden Bürgertums, also im pse_103.002 19. Jahrhundert vor allem, wird dann dieser Blick neuerlich pse_103.003 wichtig: nicht mehr das Dasein des Menschen wird tragisch pse_103.004 erlebt, sondern seine sittliche Haltung: entweder wird das pse_103.005 Tragische versittlicht oder sittliche Fragen werden ins Tragische pse_103.006 hineingezogen; das endet im sittlichen Relativismus, pse_103.007 wo jeder sittlich recht hat. Aber von sittlicher Schuld im pse_103.008 genauen Sinn des Wortes ist im Tragischen nicht die Rede. pse_103.009 Schon Aristoteles spricht nicht von sittlicher Schuld, sondern pse_103.010 von einer hamartia, einem Verfehlen, das subjektiv nicht anrechenbar pse_103.011 ist, aber objektiv einfach besteht. So deutlich in pse_103.012 der Schuld des Ödipus. Diesem Verfehlen liegt die Gefährdetheit pse_103.013 des Menschen zugrunde, und diese erschüttert uns. Es pse_103.014 kann das Dasein des Menschen selbst schon Schuld sein, durch pse_103.015 seine Herkunft (z. B. Antigone) oder durch das Sosein eines pse_103.016 bestimmten Charakters (Hamlet); aber auch die Handlung pse_103.017 des Menschen kann ein Verfehlen sein, etwa durch Verletzung pse_103.018 höchster Gesetze (so im »Ödipus«), endlich kann pse_103.019 auch eine sittlich notwendige Handlung Schuld werden.
pse_103.020 Nun aber tritt uns ein großes, vielleicht das entscheidende pse_103.021 Problem im Bereich des Tragischen entgegen. Es beginnt pse_103.022 mit der Frage: was treibt den Menschen zu solchen Erlebnissen pse_103.023 der tiefsten Erschütterung in der Kunst? Warum lesen pse_103.024 wir tragische Romane und Tragödien, warum gehen wir ins pse_103.025 Theater, um uns aufs tiefste erschüttern zu lassen? Daß gerade pse_103.026 tiefer veranlagte Menschen, ganz gleichgültig welcher pse_103.027 Berufe, zu solchen Dichtungen greifen, ist Tatsache. Wir pse_103.028 wissen, daß Schiller ganz klar auch diese Frage erörtert hat: pse_103.029 »Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.« pse_103.030 Aus dem Wesen des Tragischen als einer tiefen Erschütterung pse_103.031 über die Daseinsbedrohung ergibt sich eine genauere pse_103.032 Fassung der Frage. Der Mensch ist in solchen Situationen pse_103.033 in eine Entscheidung gestellt: wie geschieht das Durchhalten pse_103.034 der tragischen Erschütterung? Wir stoßen damit auf pse_103.035 das Erlebnis der Katharsis, das ja auch, seit Aristoteles dieses pse_103.036 Wort in die Debatte geworfen hat, viel Staub aufgewirbelt pse_103.037 hat.
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Im Zeitalter des aufkommenden Bürgertums, also im pse_103.002
19. Jahrhundert vor allem, wird dann dieser Blick neuerlich pse_103.003
wichtig: nicht mehr das Dasein des Menschen wird tragisch pse_103.004
erlebt, sondern seine sittliche Haltung: entweder wird das pse_103.005
Tragische versittlicht oder sittliche Fragen werden ins Tragische pse_103.006
hineingezogen; das endet im sittlichen Relativismus, pse_103.007
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genauen Sinn des Wortes ist im Tragischen nicht die Rede. pse_103.009
Schon Aristoteles spricht nicht von sittlicher Schuld, sondern pse_103.010
von einer hamartia, einem Verfehlen, das subjektiv nicht anrechenbar pse_103.011
ist, aber objektiv einfach besteht. So deutlich in pse_103.012
der Schuld des Ödipus. Diesem Verfehlen liegt die Gefährdetheit pse_103.013
des Menschen zugrunde, und diese erschüttert uns. Es pse_103.014
kann das Dasein des Menschen selbst schon Schuld sein, durch pse_103.015
seine Herkunft (z. B. Antigone) oder durch das Sosein eines pse_103.016
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Nun aber tritt uns ein großes, vielleicht das entscheidende pse_103.021
Problem im Bereich des Tragischen entgegen. Es beginnt pse_103.022
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»Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.« pse_103.030
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/119>, abgerufen am 21.11.2024.
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