pse_105.001 Trübenden, Vordergründigen unserer uns verengenden und pse_105.002 blind machenden Daseinserfahrungen" (Jaspers).
pse_105.003 Grundsätzlich sind drei Arten des Durchhaltens einer tragischen pse_105.004 Erschütterung möglich. Sie sind zwar theoretisch rein pse_105.005 zu scheiden, aber in den tatsächlichen Kunsterlebnissen sind pse_105.006 die Grenzen fließend. 1. Das Verzweifeln: alles wird unbedingt pse_105.007 negativ beurteilt, vollendete Sinnlosigkeit bricht hervor, pse_105.008 jedes letzte Ziel ist dem Menschen geraubt. Die Haltung des pse_105.009 Nihilismus scheidet aber bei der Frage der Tragik aus: denn pse_105.010 das Bekenntnis zur Sinnlosigkeit (wie etwa in Sartres "Huis pse_105.011 clos") ist kein Durchhalten, sondern ein Zerbrechen. Freilich pse_105.012 muß beachtet werden, daß das Erleben der Sinnlosigkeit pse_105.013 zum dunklen Drang nach neuer und umfassenderer Sinngebung pse_105.014 führen kann, der dann aus dem bloßen Nihilismus pse_105.015 hinausführt. So wirkt sich das in den Tragödien Georg pse_105.016 Büchners aus. Die Gefahr des Nihilismus ist bei jedem tiefen pse_105.017 tragischen Erleben vorhanden.
pse_105.018 2. Das Bestehen der Erschütterung. Der Mensch durchschreitet pse_105.019 hier nicht etwa die Erschütterung und gelangt hinter pse_105.020 ihr in einen neuen Zustand, sondern er hält sie durch, er pse_105.021 bleibt in ihr, und doch erlebt er dabei eine Erhebung. Worin pse_105.022 diese Erhebung in der Erschütterung gründet, ist schwer zu pse_105.023 sagen. Aristoteles und viele nach ihm sahen sie in einer Befreiung pse_105.024 von zu starken Affekten. Hegel denkt daran, daß im pse_105.025 Untergang des Endlichen der Mensch die Wahrheit und Wirklichkeit pse_105.026 des Unendlichen zu schauen bekomme. Das führt pse_105.027 schon tiefer. Vor allem kann diese Erhebung an der Art erlebt pse_105.028 werden, wie der Held einer Tragödie untergeht: er erfährt pse_105.029 und bejaht im Scheitern die ewigen Gesetze, die göttliche pse_105.030 Weltordnung. Das trifft für den "Ödipus" des Sophokles zu. pse_105.031 Noch mehr aber ist gerade dieses Werk ein Beleg für eine pse_105.032 weitere, wohl für die entscheidende Ursache der inneren Erhebung pse_105.033 im Scheitern. In der tragischen Erschütterung wird pse_105.034 das Innerste, Letzte, Entscheidendste des Menschentums freigelegt. pse_105.035 Im Durchhalten zeigt sich die Kraft des Menschen pse_105.036 überhaupt, auch das Furchtbarste zu bestehen. So offenbaren pse_105.037 sich wohl Abgründe, aber auch Kraft, Höhe und Möglichkeiten pse_105.038 des menschlichen Innern. Damit aber bejaht der
pse_105.001 Trübenden, Vordergründigen unserer uns verengenden und pse_105.002 blind machenden Daseinserfahrungen« (Jaspers).
pse_105.003 Grundsätzlich sind drei Arten des Durchhaltens einer tragischen pse_105.004 Erschütterung möglich. Sie sind zwar theoretisch rein pse_105.005 zu scheiden, aber in den tatsächlichen Kunsterlebnissen sind pse_105.006 die Grenzen fließend. 1. Das Verzweifeln: alles wird unbedingt pse_105.007 negativ beurteilt, vollendete Sinnlosigkeit bricht hervor, pse_105.008 jedes letzte Ziel ist dem Menschen geraubt. Die Haltung des pse_105.009 Nihilismus scheidet aber bei der Frage der Tragik aus: denn pse_105.010 das Bekenntnis zur Sinnlosigkeit (wie etwa in Sartres »Huis pse_105.011 clos«) ist kein Durchhalten, sondern ein Zerbrechen. Freilich pse_105.012 muß beachtet werden, daß das Erleben der Sinnlosigkeit pse_105.013 zum dunklen Drang nach neuer und umfassenderer Sinngebung pse_105.014 führen kann, der dann aus dem bloßen Nihilismus pse_105.015 hinausführt. So wirkt sich das in den Tragödien Georg pse_105.016 Büchners aus. Die Gefahr des Nihilismus ist bei jedem tiefen pse_105.017 tragischen Erleben vorhanden.
pse_105.018 2. Das Bestehen der Erschütterung. Der Mensch durchschreitet pse_105.019 hier nicht etwa die Erschütterung und gelangt hinter pse_105.020 ihr in einen neuen Zustand, sondern er hält sie durch, er pse_105.021 bleibt in ihr, und doch erlebt er dabei eine Erhebung. Worin pse_105.022 diese Erhebung in der Erschütterung gründet, ist schwer zu pse_105.023 sagen. Aristoteles und viele nach ihm sahen sie in einer Befreiung pse_105.024 von zu starken Affekten. Hegel denkt daran, daß im pse_105.025 Untergang des Endlichen der Mensch die Wahrheit und Wirklichkeit pse_105.026 des Unendlichen zu schauen bekomme. Das führt pse_105.027 schon tiefer. Vor allem kann diese Erhebung an der Art erlebt pse_105.028 werden, wie der Held einer Tragödie untergeht: er erfährt pse_105.029 und bejaht im Scheitern die ewigen Gesetze, die göttliche pse_105.030 Weltordnung. Das trifft für den »Ödipus« des Sophokles zu. pse_105.031 Noch mehr aber ist gerade dieses Werk ein Beleg für eine pse_105.032 weitere, wohl für die entscheidende Ursache der inneren Erhebung pse_105.033 im Scheitern. In der tragischen Erschütterung wird pse_105.034 das Innerste, Letzte, Entscheidendste des Menschentums freigelegt. pse_105.035 Im Durchhalten zeigt sich die Kraft des Menschen pse_105.036 überhaupt, auch das Furchtbarste zu bestehen. So offenbaren pse_105.037 sich wohl Abgründe, aber auch Kraft, Höhe und Möglichkeiten pse_105.038 des menschlichen Innern. Damit aber bejaht der
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Trübenden, Vordergründigen unserer uns verengenden und pse_105.002
blind machenden Daseinserfahrungen« (Jaspers).
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Grundsätzlich sind drei Arten des Durchhaltens einer tragischen pse_105.004
Erschütterung möglich. Sie sind zwar theoretisch rein pse_105.005
zu scheiden, aber in den tatsächlichen Kunsterlebnissen sind pse_105.006
die Grenzen fließend. 1. Das Verzweifeln: alles wird unbedingt pse_105.007
negativ beurteilt, vollendete Sinnlosigkeit bricht hervor, pse_105.008
jedes letzte Ziel ist dem Menschen geraubt. Die Haltung des pse_105.009
Nihilismus scheidet aber bei der Frage der Tragik aus: denn pse_105.010
das Bekenntnis zur Sinnlosigkeit (wie etwa in Sartres »Huis pse_105.011
clos«) ist kein Durchhalten, sondern ein Zerbrechen. Freilich pse_105.012
muß beachtet werden, daß das Erleben der Sinnlosigkeit pse_105.013
zum dunklen Drang nach neuer und umfassenderer Sinngebung pse_105.014
führen kann, der dann aus dem bloßen Nihilismus pse_105.015
hinausführt. So wirkt sich das in den Tragödien Georg pse_105.016
Büchners aus. Die Gefahr des Nihilismus ist bei jedem tiefen pse_105.017
tragischen Erleben vorhanden.
pse_105.018
2. Das Bestehen der Erschütterung. Der Mensch durchschreitet pse_105.019
hier nicht etwa die Erschütterung und gelangt hinter pse_105.020
ihr in einen neuen Zustand, sondern er hält sie durch, er pse_105.021
bleibt in ihr, und doch erlebt er dabei eine Erhebung. Worin pse_105.022
diese Erhebung in der Erschütterung gründet, ist schwer zu pse_105.023
sagen. Aristoteles und viele nach ihm sahen sie in einer Befreiung pse_105.024
von zu starken Affekten. Hegel denkt daran, daß im pse_105.025
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schon tiefer. Vor allem kann diese Erhebung an der Art erlebt pse_105.028
werden, wie der Held einer Tragödie untergeht: er erfährt pse_105.029
und bejaht im Scheitern die ewigen Gesetze, die göttliche pse_105.030
Weltordnung. Das trifft für den »Ödipus« des Sophokles zu. pse_105.031
Noch mehr aber ist gerade dieses Werk ein Beleg für eine pse_105.032
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im Scheitern. In der tragischen Erschütterung wird pse_105.034
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/121>, abgerufen am 21.11.2024.
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