pse_107.001 von Gethsemane und Golgatha heraustrete. Freilich: der echte pse_107.002 Christ vermag die Erschütterung zu durchschreiten. Aber es pse_107.003 wäre wohl eine Verengung, wenn man allen Dichtungen, pse_107.004 in denen die Erschütterung überwunden würde, Tragik abspräche. pse_107.005 Denn auch -- und das ist die zweite Form -- in der pse_107.006 mehr philosophischen Tragödie, besonders in der des deutschen pse_107.007 Idealismus, wird im Rückgriff auf eine höchste Wertwelt, pse_107.008 auf das Geistige überhaupt die Erschütterung überwunden.
pse_107.009
pse_107.010 In der Wirklichkeit der dichterischen Gegebenheiten gibt pse_107.011 es die reinen Fälle des Verzweifelns, des Durchhaltens und pse_107.012 des Durchschreitens nicht allzu oft. Es gibt zahllose Übergänge. pse_107.013 Auf der einen Seite steht etwa Kleists "Penthesilea" in pse_107.014 ihrer radikalen Tragik, die aber durchaus nicht in den Nihilismus pse_107.015 führt, auf der anderen Goethes "Iphigenie", die am Ende pse_107.016 des vierten Aufzugs im Monolog Iphigeniens und dem darauf pse_107.017 folgenden Parzenlied die Tragik unbedingt streift, aber dann pse_107.018 zur vollen und beglückenden Lösung hindurchschreitet. Je pse_107.019 mehr die neue Weltordnung, die eine neue Sinngebung über pse_107.020 der alten, zerstörten ermöglicht, benannt werden kann, je pse_107.021 klarer und greifbarer sie sich als erlösend offenbart, desto pse_107.022 mehr führt eine solche Dichtung über reine Tragik hinaus. pse_107.023 Das ist keine Frage des Werts, sondern eine verschiedener pse_107.024 dichterischer Möglichkeiten.
pse_107.025 Wir erkennen an ihnen, wie uns die Frage des Tragischen, pse_107.026 die uns im Lauf der Betrachtung ins Weltanschauliche geführt pse_107.027 hat, wieder zurück zu verschiedenen Arten dichterischer pse_107.028 Gestaltung bringt. Denn gerade die verschiedenen pse_107.029 möglichen Gewichtsverteilungen von Erschütterung und pse_107.030 Erhebung, entweder im Lauf der Handlung oder in bestimmtem pse_107.031 Zusammenklang, ergeben die verschiedensten Spielarten pse_107.032 dichterischer Anlage. Aber noch etwas anderes ist zu beachten. pse_107.033 Es gibt Menschen und Zeiten, die kaum solche tiefen pse_107.034 Erschütterungen erleben, denen also Tragik und Tragödiendichtung pse_107.035 fernerstehen. Andererseits vermögen oft Zeiten pse_107.036 und Menschen Weltzusammenhänge tragisch zu erleben, die pse_107.037 anderen nicht so erscheinen, und umgekehrt. Gottsched pse_107.038 deutet den Ödipus in seiner "Kritischen Dichtkunst" in einer
pse_107.001 von Gethsemane und Golgatha heraustrete. Freilich: der echte pse_107.002 Christ vermag die Erschütterung zu durchschreiten. Aber es pse_107.003 wäre wohl eine Verengung, wenn man allen Dichtungen, pse_107.004 in denen die Erschütterung überwunden würde, Tragik abspräche. pse_107.005 Denn auch — und das ist die zweite Form — in der pse_107.006 mehr philosophischen Tragödie, besonders in der des deutschen pse_107.007 Idealismus, wird im Rückgriff auf eine höchste Wertwelt, pse_107.008 auf das Geistige überhaupt die Erschütterung überwunden.
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pse_107.010 In der Wirklichkeit der dichterischen Gegebenheiten gibt pse_107.011 es die reinen Fälle des Verzweifelns, des Durchhaltens und pse_107.012 des Durchschreitens nicht allzu oft. Es gibt zahllose Übergänge. pse_107.013 Auf der einen Seite steht etwa Kleists »Penthesilea« in pse_107.014 ihrer radikalen Tragik, die aber durchaus nicht in den Nihilismus pse_107.015 führt, auf der anderen Goethes »Iphigenie«, die am Ende pse_107.016 des vierten Aufzugs im Monolog Iphigeniens und dem darauf pse_107.017 folgenden Parzenlied die Tragik unbedingt streift, aber dann pse_107.018 zur vollen und beglückenden Lösung hindurchschreitet. Je pse_107.019 mehr die neue Weltordnung, die eine neue Sinngebung über pse_107.020 der alten, zerstörten ermöglicht, benannt werden kann, je pse_107.021 klarer und greifbarer sie sich als erlösend offenbart, desto pse_107.022 mehr führt eine solche Dichtung über reine Tragik hinaus. pse_107.023 Das ist keine Frage des Werts, sondern eine verschiedener pse_107.024 dichterischer Möglichkeiten.
pse_107.025 Wir erkennen an ihnen, wie uns die Frage des Tragischen, pse_107.026 die uns im Lauf der Betrachtung ins Weltanschauliche geführt pse_107.027 hat, wieder zurück zu verschiedenen Arten dichterischer pse_107.028 Gestaltung bringt. Denn gerade die verschiedenen pse_107.029 möglichen Gewichtsverteilungen von Erschütterung und pse_107.030 Erhebung, entweder im Lauf der Handlung oder in bestimmtem pse_107.031 Zusammenklang, ergeben die verschiedensten Spielarten pse_107.032 dichterischer Anlage. Aber noch etwas anderes ist zu beachten. pse_107.033 Es gibt Menschen und Zeiten, die kaum solche tiefen pse_107.034 Erschütterungen erleben, denen also Tragik und Tragödiendichtung pse_107.035 fernerstehen. Andererseits vermögen oft Zeiten pse_107.036 und Menschen Weltzusammenhänge tragisch zu erleben, die pse_107.037 anderen nicht so erscheinen, und umgekehrt. Gottsched pse_107.038 deutet den Ödipus in seiner »Kritischen Dichtkunst« in einer
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von Gethsemane und Golgatha heraustrete. Freilich: der echte pse_107.002
Christ vermag die Erschütterung zu durchschreiten. Aber es pse_107.003
wäre wohl eine Verengung, wenn man allen Dichtungen, pse_107.004
in denen die Erschütterung überwunden würde, Tragik abspräche. pse_107.005
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mehr philosophischen Tragödie, besonders in der des deutschen pse_107.007
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In der Wirklichkeit der dichterischen Gegebenheiten gibt pse_107.011
es die reinen Fälle des Verzweifelns, des Durchhaltens und pse_107.012
des Durchschreitens nicht allzu oft. Es gibt zahllose Übergänge. pse_107.013
Auf der einen Seite steht etwa Kleists »Penthesilea« in pse_107.014
ihrer radikalen Tragik, die aber durchaus nicht in den Nihilismus pse_107.015
führt, auf der anderen Goethes »Iphigenie«, die am Ende pse_107.016
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zur vollen und beglückenden Lösung hindurchschreitet. Je pse_107.019
mehr die neue Weltordnung, die eine neue Sinngebung über pse_107.020
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mehr führt eine solche Dichtung über reine Tragik hinaus. pse_107.023
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Wir erkennen an ihnen, wie uns die Frage des Tragischen, pse_107.026
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hat, wieder zurück zu verschiedenen Arten dichterischer pse_107.028
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deutet den Ödipus in seiner »Kritischen Dichtkunst« in einer
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/123>, abgerufen am 24.11.2024.
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