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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Jahrhundert steht -- vielfach in denselben Ländern -- die Kunst pse_119.002
eines Dürer, Raffael, Michelangelo, Rembrandt. Und zwischen pse_119.003
den grotesken Zügen in der Dichtung des Sturm und pse_119.004
Drang und der Romantik steht die deutsche Klassik, die uns pse_119.005
doch auch vom Verwirrenden der Welt um uns zu erheben, pse_119.006
also zu befreien vermag. Damit kommen wir in eigenartige pse_119.007
geistesgeschichtliche Betrachtungen. Wie nicht alle Epochen pse_119.008
tief tragisch erleben, so auch nicht alle grotesk. Es ist sicher, pse_119.009
daß Zeiten gewaltiger Erschütterungen äußerer und innerer pse_119.010
Art zu solchen Haltungen drängen. Das Groteske, die Neigung pse_119.011
zu ihm und seine Gestaltung sind der lauteste und eindringlichste pse_119.012
Widerspruch gegen jeden Rationalismus und pse_119.013
gegen jede überwölbende Systematik des Denkens. So erklärt pse_119.014
sich sein Vorkommen gerade in Zeiten überragender systematischer pse_119.015
Leistungen, wie wir sie in wissenschaftlichen, philosophischen pse_119.016
(Spinoza) und auch künstlerischen Werken (Sixtinische pse_119.017
Kapelle, Barocktheater) finden, als Gegenwirkung pse_119.018
dazu. Oder als Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung pse_119.019
in der ganz Europa umfassenden und oft als europäische pse_119.020
Romantik bezeichneten irrationalen Bewegung um pse_119.021
die Wende zum 19. Jahrhundert. Auch das ist verständlich, pse_119.022
daß der Positivismus des 19. Jahrhunderts mit seinem Fortschrittsglauben pse_119.023
groteskes Erleben zurückdrängt. Der Durchbruch pse_119.024
einer neuen grotesken Welle erfolgt in den Nöten und pse_119.025
"Errungenschaften" unserer Zeit. Doch darf nicht verkannt pse_119.026
werden, daß das Groteske betont menschlich ist, rein geistiges pse_119.027
Erfassen, ja sogar deutlich geistig-herrschsüchtige Züge aufweisen pse_119.028
kann. Nicht immer erlebte man das Groteske gleich. pse_119.029
Frühere Zeiten sahen mehr das Grobkomische und Karikaturistische pse_119.030
in ihm, wir mehr die Verfremdung. Mag sein, daß pse_119.031
die Ästhetik des frühen 19. Jahrhunderts weniger tief in diese pse_119.032
Haltung eindringen konnte als unsere Zeit. Noch ein letzter pse_119.033
Blick auf die Moderne sei hier gestattet. Wir haben gerade pse_119.034
gesehen, daß in früheren Epochen das Groteske sich vielfach pse_119.035
neben hohen, wenn man will, idealen Kunstwerken entfaltet. pse_119.036
Finden wir das auch heute? Wenn nicht, wäre das nicht ein pse_119.037
Kennzeichen unserer Tage, das zu denken gäbe? Aber vielleicht pse_119.038
darf man in diesem Zusammenhang die vermehrte

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Jahrhundert steht — vielfach in denselben Ländern — die Kunst pse_119.002
eines Dürer, Raffael, Michelangelo, Rembrandt. Und zwischen pse_119.003
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Drang und der Romantik steht die deutsche Klassik, die uns pse_119.005
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tief tragisch erleben, so auch nicht alle grotesk. Es ist sicher, pse_119.009
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Art zu solchen Haltungen drängen. Das Groteske, die Neigung pse_119.011
zu ihm und seine Gestaltung sind der lauteste und eindringlichste pse_119.012
Widerspruch gegen jeden Rationalismus und pse_119.013
gegen jede überwölbende Systematik des Denkens. So erklärt pse_119.014
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Romantik bezeichneten irrationalen Bewegung um pse_119.021
die Wende zum 19. Jahrhundert. Auch das ist verständlich, pse_119.022
daß der Positivismus des 19. Jahrhunderts mit seinem Fortschrittsglauben pse_119.023
groteskes Erleben zurückdrängt. Der Durchbruch pse_119.024
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»Errungenschaften« unserer Zeit. Doch darf nicht verkannt pse_119.026
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Frühere Zeiten sahen mehr das Grobkomische und Karikaturistische pse_119.030
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die Ästhetik des frühen 19. Jahrhunderts weniger tief in diese pse_119.032
Haltung eindringen konnte als unsere Zeit. Noch ein letzter pse_119.033
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gesehen, daß in früheren Epochen das Groteske sich vielfach pse_119.035
neben hohen, wenn man will, idealen Kunstwerken entfaltet. pse_119.036
Finden wir das auch heute? Wenn nicht, wäre das nicht ein pse_119.037
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[119/0135] pse_119.001 Jahrhundert steht — vielfach in denselben Ländern — die Kunst pse_119.002 eines Dürer, Raffael, Michelangelo, Rembrandt. Und zwischen pse_119.003 den grotesken Zügen in der Dichtung des Sturm und pse_119.004 Drang und der Romantik steht die deutsche Klassik, die uns pse_119.005 doch auch vom Verwirrenden der Welt um uns zu erheben, pse_119.006 also zu befreien vermag. Damit kommen wir in eigenartige pse_119.007 geistesgeschichtliche Betrachtungen. Wie nicht alle Epochen pse_119.008 tief tragisch erleben, so auch nicht alle grotesk. Es ist sicher, pse_119.009 daß Zeiten gewaltiger Erschütterungen äußerer und innerer pse_119.010 Art zu solchen Haltungen drängen. Das Groteske, die Neigung pse_119.011 zu ihm und seine Gestaltung sind der lauteste und eindringlichste pse_119.012 Widerspruch gegen jeden Rationalismus und pse_119.013 gegen jede überwölbende Systematik des Denkens. So erklärt pse_119.014 sich sein Vorkommen gerade in Zeiten überragender systematischer pse_119.015 Leistungen, wie wir sie in wissenschaftlichen, philosophischen pse_119.016 (Spinoza) und auch künstlerischen Werken (Sixtinische pse_119.017 Kapelle, Barocktheater) finden, als Gegenwirkung pse_119.018 dazu. Oder als Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung pse_119.019 in der ganz Europa umfassenden und oft als europäische pse_119.020 Romantik bezeichneten irrationalen Bewegung um pse_119.021 die Wende zum 19. Jahrhundert. Auch das ist verständlich, pse_119.022 daß der Positivismus des 19. Jahrhunderts mit seinem Fortschrittsglauben pse_119.023 groteskes Erleben zurückdrängt. Der Durchbruch pse_119.024 einer neuen grotesken Welle erfolgt in den Nöten und pse_119.025 »Errungenschaften« unserer Zeit. Doch darf nicht verkannt pse_119.026 werden, daß das Groteske betont menschlich ist, rein geistiges pse_119.027 Erfassen, ja sogar deutlich geistig-herrschsüchtige Züge aufweisen pse_119.028 kann. Nicht immer erlebte man das Groteske gleich. pse_119.029 Frühere Zeiten sahen mehr das Grobkomische und Karikaturistische pse_119.030 in ihm, wir mehr die Verfremdung. Mag sein, daß pse_119.031 die Ästhetik des frühen 19. Jahrhunderts weniger tief in diese pse_119.032 Haltung eindringen konnte als unsere Zeit. Noch ein letzter pse_119.033 Blick auf die Moderne sei hier gestattet. Wir haben gerade pse_119.034 gesehen, daß in früheren Epochen das Groteske sich vielfach pse_119.035 neben hohen, wenn man will, idealen Kunstwerken entfaltet. pse_119.036 Finden wir das auch heute? Wenn nicht, wäre das nicht ein pse_119.037 Kennzeichen unserer Tage, das zu denken gäbe? Aber vielleicht pse_119.038 darf man in diesem Zusammenhang die vermehrte

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/135>, abgerufen am 21.11.2024.